Wenn ich das nächste Mal in Frutigen bin und genug Zeit dafür habe, werde ich endlich wieder durch ein paar der Beizen ziehen, in denen mein Vater vor vielen Jahren seine Feierabendbiere getrunken hat. Ich möchte wissen, ob es sie in Frutigen noch gibt, die Stammtische. Wenn ich irgendwo unterwegs in einer Landbeiz sitze und einen Stammtisch entdecke, heimelet es mir, der Bierduft, die Pommes Chips auf dem Tisch, das Servicepersonal, das alle bei den Vornamen nennen – nur der Zigarettenrauch ist nicht mehr obligat. Wenn ich diese seltener werdenden Szenerien noch antreffe, geniesse ich das Zuhören. Die formulierten Meinungen und Gedanken mögen nicht immer politisch korrekt oder mit vertieften Recherchen fundiert sein, aber sie kommen daher, es wird ihnen auch widersprochen, manchmal wird es laut, und dann bestellt man zusammen das nächste.
Man könnte auch sagen: Gelebte Meinungsfreiheit.
Das Wort ist in aller Munde, nicht erst seit der amerikanische Vize den Europäern bei der internationalen Sicherheitskonferenz eine Standpauke gehalten hat, dass sie gefälligst auf die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger achten sollen und andere Standpunkte zulassen.
Den Amerikanern ist ihre in der Verfassung festgeschriebene Meinungsfreiheit heilig. Aber genau genommen heisst es bei ihnen eben nicht «Freedom of opinion», sondern «Freedom of speech»: Redefreiheit. Der Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten ist immens, und er pflügt sich gerade durch unsere Welt.
Die grossen Tech-Kommunikationsplattformen wollen die «Redefreiheit» unter dem Druck der neuen US-Regierung nun wieder freischalten – und eben nicht nur im Amerika, sondern in der ganzen Welt. Konkret scheint es vor allem um zwei Dinge zu gehen. Erstens um die objektive Wahrheit: Der Facebook-Meta-Konzern hat unter dem Applaus vieler die Faktenchecks abgeschafft, weil sie angeblich «parteiisch» seien. Das Bestehen auf Tatsachen soll eine Verzerrung sein, das hindernisfreie Behaupten von erfundenem Blödsinn aber nicht… Man kratzt sich am Kopf.
Zweitens geht es um das «Recht», auch Menschen aus Minderheitsgruppen beschimpfen und beleidigen zu dürfen – während ihnen das Recht genommen wird, sich zu wehren. Eine Freiheit der Stärkeren und Lauteren und Rücksichtslosen.
Wenn ich mir vorstelle, dass sich unter dem Schutzpatronat der neuen Konservativen (auch hierzulande) und ihrer überraschend willigen Gehilfen in den globalen Techunternehmen diese radikale Haltung zur Redefreiheit durchsetzt, dass sie die Welt prägen wird, in der meine Töchter dereinst ihren Weg suchen, wird mir speiübel. Dabei bin ich sehr für die Redefreiheit. Aber es ist eben eine Frage des Rahmens und der Reichweite.
In der Stammbeiz gibt es diese «Beleidigungsfreiheit» auch. Wenn Tinel den Fredel einen alten Stinksack nennt, darf er das, aber es gibt zur Antwort halt auch mal einen auf’s Maul. Anders als die zart besaiteten Internet-Bullys wird Tinel vermutlich nicht beim Gemeindepräsidenten jammern gehen, um seine «Redefreiheit» zu verteidigen. Und wenn ein anderer einen ausgewachsenen Blödsinn verzapft, hat es einerseits nur die anwesende Runde gehört, andererseits sitzt hoffentlich auch jemand dabei, der ihm sagt, er sei ein Laferi und soll doch mal wieder etwas nachlesen.
Mit der Grösse von Rahmen und Reichweite muss auch grössere Verantwortung verbunden sein. Wir tun gut daran, den Wirkungsradius der Sozialen Medien und der politischen Rednerpulte nicht mit einem Stammtischgespräch zu verwechseln. Stattdessen soll die Frage erlaubt sein: Wird da wirklich um das Recht gekämpft, eine abweichende Ansicht zu haben? Oder doch eher um das Recht, schlecht informiert «herumzuposaunen»? Mit Falschinformation bewusst zu manipulieren? Um das Recht den inneren Müll auf Schwächeren abzuladen, die gefälligst wehrlos bleiben sollen?
Für mich persönlich formuliere ich die Frage auch so: Welches Verhalten würde ich mir von meinen Kindern wünschen? Und für sie?
Der Widerstand, im kleinen wie ihm grossen Wirkungsradius, beginnt jetzt. Spätestens.