Geht es Ihnen auch manchmal so? Auf dem Weg vom Arbeitstisch in die Küche vergessen Sie, dass Sie dort ein Glas Wasser holen wollten, stattdessen sehen Sie eine alte Zeitung auf dem Küchentisch und beschliessen, sie grad mit dem vollen Altpapier zu entsorgen, und während Sie das frisch gebündelte Papier rausbringen, merken Sie wieder, dass Sie Durst haben, und eigentlich ein Glas Wasser holen wollten, um ohne Durst endlich ein schon zu lange wartendes Mail zu beantworten. Das Mail wird nicht beantwortet, denn als Sie endlich das Glas aus dem Schrank holen, klingelt das Handy auf dem Arbeitstisch, vermutlich ein wichtiger Rückruf, den Sie schon lange erwarten, Sie huschen mit einem noch leeren Wasserglas zurück, telefonieren 10 Minuten, hängen auf, den Kopf voll neuer, dringender Fragen, blicken auf das Glas und staunen, dass Sie immer noch durstig sind, obwohl es leer ist. Viellicht nochmal eins holen, Sie stehen auf und… usw.

Manchmal mache ich mir Sorgen um mein Hirn. Ein guter Freund von mir macht sich auch Sorgen um sein Hirn, und erzählt mir Episoden, wie die obenstehende. Und wie so oft, wenn es um jemand anderen geht, hat man rasch beruhigende Worte zur Hand: „Ich glaube nicht, dass das an dir liegt“, höre ich mich zu ihm sagen. „Ich glaube, es liegt an der Welt.“ Das glaube ich wirklich. Unser inneres System ist doch nicht gebaut, um ständig auf mehreren Kanälen online zu sein, die Nachrichten aus aller Welt zu verarbeiten und mit all dem im Kopf in einem Alltag zu funktionieren, in dem es ein Katzensprung ist bis in die nächste Stadt, wo man drei Kinder in vier Sportvereine chauffiert, während man mit dem Knopf im Ohr rasch der Arbeitskollegin erklärt, wie sie den Druckerstau im Büro beheben kann. Wenn ich mir das überlege, ist es eigentlich erstaunlich, dass nicht noch mehr Menschen Nervenzusammenbrüche und Burn-Outs haben. Aber es sind schon genug. Diese Krankheitsbilder nehmen zu, genauso wie die ADHS-Diagnosen.

Persönlich gehe ich davon aus, dass auch zumindest eine milde Form von dem habe, was rasch ADHS genannt wird. Aber so mag ich es nicht nennen, denn das S in der Abkürzung steht für „Störung“, und bei mir ist die „Störung“ offenbar schon so weit fortgeschritten, dass ich behaupte, nicht ich, sondern die Welt sei gestört. Ich bilde mir ein, dass ich einerseits für meine künstlerische Arbeit die Fähigkeit brauche, mich zu vertiefen und temporär alles um mich herum zu vergessen. Der Teil der Störung wäre dann also ein Talent. Und andererseits bilde ich mir auch ein, dass ich in einer „natürlichen“ Welt ganz gut funktionieren würde, also in einer Welt ohne Hochgeschwindigkeitstechnik und Hochgeschwindigkeitsmobilität.

Dann denke ich immer an meine Grossmutter selig, das Trummer Bethli, die so gut und gern von früher erzählt hat. Und mir wird bewusst, dass inzwischen kein Mensch mehr lebt auf diesem Planeten (ausser vielleicht in indigenen Zivilisationen im Urwald), dessen Lebenswelt sich nicht radikal verändert hat zu seinen Lebzeiten. Seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, und seit diese spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts auch die Täler und Provinzen erfasst hat, erleben wir Menschen extrem beschleunigte Veränderungen unserer Umwelt und unserer Lebensumstände. Mit der Massenproduktion und dem globalen Handel sind wir zu Kundinnen und Kunden geworden, und die Produkte, die wir angeblich unbedingt brauchen, werden immer künstlicher – und absurder, aus einer Perspektive der „natürlichen Welt“ gesehen: Niemand „braucht“ Haarfärbemittel, zum Beispiel. Niemand „braucht“ Netflix. Oder W-Lan-taugliche Backöfen. Kein Kind „braucht“ ein Videogame. Es hat eine Welt ohne all das gegeben, sie hat sich gedreht, wir haben geatmet, gegessen, geliebt, gestritten, nachgedacht, wir waren Menschen.

Nun ist sie, wie sie ist, die Welt. Ich kann sie weder bremsen noch entscheidend verändern, und ich bin auch nicht radikal genug, um konsequent auszusteigen. Aber ich kann mir zumindest zugestehen, dass der Stress, den sie mir macht, nicht meine Schwäche ist.