Ich habe gestern wieder mal den Kindern bei Spielen im Garten zugesehen. Auch Zusehen gibt zu tun, alle paar Minuten kommt eines angerannt, um die Ungerechtigkeit eines anderen zu berichten. Oder man hört die Kleine irgendwo aufheulen und sieht nach, wie ernst der Vorfall ist. Es hatte von einem gemeinsamen Zmorge noch ein paar Gipfeli auf dem Tisch, lange unberührt, aber sobald ein Kind sich noch eins holte, kamen grad mehrere angerannt und wollten auch. Wir haben verteilt und geschmunzelt: Immer diese Angst zu kurz zu kommen.

Bei den Kindern schmunzelt man, sie lernen das alles erst gerade. Aber manchmal denke ich dann: Zwischen 2- und 3-jährig ist also der Punkt, an dem die Entwicklung bei jenen Erwachsenen stecken geblieben ist, die auch immer meinen, genau sie würden plötzlich zu kurz zu kommen, jemand nimmt ihnen alles weg, ich muss schnell sein, meine Vorteile verteidigen! (Hier Lesende natürlich ausgeschlossen…)

Man spricht von der Unschuld der Kinder. Wer Kinder im Alltag erlebt, weiss: Sie bringen einem zwar mehrmals täglich das Herz zum Überlaufen, sind herzlich, zärtlich, rührend und beeindruckend in ihrer Lernbereitschaft und Hingabe (Liste unvollständig).  Aber eben auch egoistisch, hinterhältig, launisch, gemein und rücksichtslos (Liste auch hier unvollständig). All das versucht man in den Griff zu kriegen, bzw. man versucht ihnen zu helfen, sich selbst in den Griff zu kriegen – mit Erziehung und Begleitung, irgendwann auch mit Bildung.

Mit der Unschuld der Kinder meint man wohl vor allem, dass sie sich ja nicht entschieden haben, zu sein, wie sie sind. Bis zu einem gewissen Grad kann man Unschuld vielleicht auch Erwachsenen zugestehen: Auch wir entscheiden uns nicht bewusst für unsere niedrigsten Impulse, sie passieren uns, sie überwältigen uns. Ich habe jeden Tag ein Dutzend schrecklicher Gedanken über andere Menschen. Ich habe irgendwann gelernt, mir das nicht mehr übel zu nehmen. Ich höre sie in mir, verabscheue sie sogleich und behalte sie für mich. Aber bei aller Unschuld an den Impulsen, die Eigenverantwortung beginnt dann doch. Es ist an mir, diese Gedanken eben nicht auszusprechen, sie zu hinterfragen, über sie nachzudenken, einzuordnen und ja, zu verurteilen. Die Fähigkeit dazu ist nicht angeboren, sondern erlernt: Von Eltern, Lehrpersonen und Mitmenschen, die mich gespiegelt haben und aufmerksam gemacht.

Jetzt, als Erwachsener ist es leider manchmal gerade das Urteil anderer, das mich davon abhält, mich zu ändern: Was haben die mir zu sagen! Sehen die überhaupt ihre eigenen Fehler! In meinem Hochmut darüber, bereits einiges gelernt zu haben, bin ich trotziger geworden als ein Kind, flüchte in den Selbstverteidigungsmodus, wenn ich mich als „guten Menschen“ in Frage gestellt sehe.  Dabei weiss ich meist ziemlich genau, was sich gehört und wie ich gerade dagegen verstosse. Nämlich indem ich andere so behandle, wie ich nicht behandelt werden möchte.

Ich staune immer wieder über den Begriff „Menschlichkeit“. Verhaltensweisen werden als „unmenschlich“ bezeichnet, von denen die Geschichte zeigt, dass sie leider zutiefst menschlich sind. Selbst Krieg wird immer wieder mal „unmenschlich“ genannt, dabei pflügt er sich omnipräsent durch die Menschheitsgeschichte. Oftmals ist Politik an sich kriegerisch: Vorteile wollen erkämpft oder eben verteidigt werden. Mir scheint es wäre treffender, anstelle des Lobliedes auf die „Menschlichkeit“ ein Loblied auf die „Zivilisiertheit“ zu singen. Auf die „gute Erziehung“, die uns abhebt von rein triebgesteuerten Wesen.

Den meisten von fällt es nicht mehr so schwer, mal auf ein Gipfeli zu verzichten, jemandem den Vortritt zu lassen, über einen wüsten Einfall nachzudenken, bevor wir ihn aussprechen. Aber fühlen wir uns diesen Werten auch noch verpflichtet, wenn sie über den privaten Radius hinaus angewendet werden möchten? Wenn wir abstimmen? Wenn wir uns mit Zuwanderung befassen? Wenn wir mit anderen Kulturen und ihren Werten konfrontiert sind? Wenn wir verzichten müssten, damit es tatsächlich für alle reicht?

Vielleicht entscheidet sich erst da, wie kindisch wir als Gesellschaft geblieben sind. Unschuld können wir kaum geltend machen, volljährig ist unser Land schon lange.