Kürzlich habe ich gegenüber einer Freundin aus Amerika am Telefon in irgendeinen Zusammenhang das Wort „woke“ gesagt – und hörte förmlich, wie sie zusammenzuckte (was natürlich nicht geht, aber Sie wissen, wie ich meine). „Woke“ sagt man nicht mehr, hat sie erklärt, „woke“ sei das Wort, das die Konservativen brauchen, um progressive Ideen als extremistisch zu diffamieren. Ich hätte fast eingewendet, dass die progressive Bewegung sich ja selbst so betitelt habe, seit etwa zehn Jahren, ausgehend von den Black Lives Matter-Demonstrationen in den USA. Aber sie war so überzeugt, dass ich verzichtete.

Unser Gespräch drehte sich auch um Privilegien der Menschen in gutsituierten Ländern. Und nachdem wir aufgehängt hatten, wurde mir bewusst, dass auch „Privileg“ ein Wort ist, das gerade seine Bedeutung ändert. Steht heute noch jemand auf eine Bühne und sagt: „Es ist ein Privileg hier sprechen zu dürfen“? Im allgemeinen Diskurs steht „Privileg“ heute oft für eine Ungerechtigkeit: Die Privilegierten haben keine Ahnung, wie es den Unterprivilegierten geht. Privilegien sind nicht mehr die Ausnahme, in der man eine besondere Chance erhält. Sie stehen für die Ignoranz einer sozial und wirtschaftlich besser gestellten Schicht, die sich ihren Status nicht (oder nur teilweise) selbst erarbeiten musste, ihn aber für verdient hält und andere daran nicht teilhaben lassen will. Man könnte auch sagen: Für Länder wie die Schweiz (was man so verallgemeinernd natürlich nicht sagen sollte, aber Sie wissen, wie ich meine).

Der Prozess, der die Bedeutung von Wörtern verändert, ist oft von Emotionen geprägt. Zunächst die Emotionen jener, die eine Ausdrucksweise verurteilen. Aber sogleich auch von den Emotionen jener, die sich nicht ihre Wortwahl dreinreden lassen wollen. (Das haben wir früher auch immer so gesagt, und jetzt plötzlich!)

Da hilft es meist auch nichts, auf Sachlichkeit zu bestehen. Ganz sachlich gesehen ist z.B.  offensichtlich, dass wir verschiedene Hautfarben haben und verschiedene Abstammungen. Warum soll ich also nicht erwähnen, wie jemand aussieht, woher sie kommt oder dass er jüdisch ist? Muss ich da bei meiner Wortwahl wirklich alle herumgeisternden Vorurteile berücksichtigen? Und übrigens: Viele Völker in arabischen und nordafrikanischen Ländern sind Semiten, sprechen also semitische Sprachen, da ist es doch absurd, die Hamas als antisemitisch zu bezeichnen, oder? Ganz sachlich gesehen, Sie wissen ja, wie ich meine.

Aber so sachlich geht es halt nicht. Man, also die öffentliche Allgemeinheit, weiss eben oft nicht, wie ich es meine, weiss nicht, dass ich eigentlich ein Lieber bin, der eigentlich alles gut meint. Dass Ausdrucksweisen oftmals sehr unsachlich aufgeladen sind, kennen wir in den Bergtälern ja auch aus Erfahrung. Wir, die aus dem hintersten Chrachen. Die mit der Bauernsprache, die aus der Provinz. Die wir wohl bisschen dünnere Luft erwischt haben schon in der Kindheit.  Sachlich gesehen ist all das ziemlich korrekt. Aber wie hören Sie das in Ihrem Schattenloch?

Schlussendlich bleibt einem im Alltag wohl einfach die Entscheidung, welche Kämpfe um die Wortwahl man kämpfen will. Persönlich finde ich, dass man manchmal bestehen muss auf der Sachlichkeit. Zum Beispiel darauf, dass ich mich nicht „antisemitisch“ nennen lasse, wenn ich den politischen Staat Israel für seine schonungslose Kriegsführung (und Siedlungspolitik) kritisiere. Ich bestehe auch darauf, dass ich den Palästinensern nicht ihr Recht auf Widerstand abspreche, wenn ich die Hamas eine Terrororganisation nenne und die von ihr gewählten Mittel schärfstens verurteile.

Aber manchmal macht es vielleicht auch einfach Sinn zu akzeptieren, dass ich allein keine Hoheit habe über die emotionale Ladung eines Begriffs. Dass ich daran nichts ändern werde, wenn ich auf Sachlichkeit oder einer Gewohnheit aus der Jugendzeit bestehe. Es ist ein bisschen mühsam, weil man diese kollektiven Veränderungen als Einzelperson immer wieder mal ein bisschen zu spät bemerkt. Aber ist es nicht ein Privileg, ein solches Problem zu haben und kein existentielles? Und dann muss man halt ein bisschen wach bleiben (also, woke, aber nicht woke, Sie wissen, wie ich meine).