Manchmal hört man eine Rede und man denkt: Alles was dieser Mensch sagt, regt mich auf, aber wenn ich mich nicht so aufregen würde, müsste ich ihm eigentlich Recht geben – zumindest teilweise. Oder umgekehrt: Es spricht jemand, den man schätzt für seine Überzeugungen, vielleicht gehört man der gleichen Partei oder Kirche an, und beim Zuhören zuckt so ein Gedanke, dass da gerade das Wichtigste vergessen wird. Aber lassen wir den kritischen Gedanken zu oder unterdrücken wir ihn aus Loyalität?
Man hat viel davon gelesen in letzter Zeit: Wir leben in Blasen. Viele Menschen umgeben sich vor allem mit Menschen, die gleicher Meinung sind. Zunehmend kann man auch seine Informationen an Quellen abholen, denen man deshalb vertraut, weil sie von einem ähnlichen Weltbild ausgehen. Rechts und links, Stadt und Land, reich und arm – es häufen sich die Kategorien von Menschengruppen, die sich nicht mehr begegnen und sich so nicht wirklich auf die Weltsicht der anderen einlassen müssen.
Und da kommt sie dann ins Spiel, eine der wichtigsten Errungenschaften unserer freien Welt, die nun gleichzeitig immer öfter als dankbare und gefährliche Ausrede genutzt wird: Meinungsfreiheit.
Wenn rechte weisse Demonstranten in den USA ganz offen dafür kämpfen, nicht als gleichwertig mit schwarzen Menschen gelten zu müssen. Wenn nicht speziell ausgebildete PolitikerInnen wissenschaftliche Erkenntnisse in Frage stellen, von denen die Gesundheit des ganzen Planeten abhängt. Wenn radikale religiöse Ansichten in die Politik kommen und ganze Länder umpflügen wollen. Wenn sich die Ansprüche eines Wirtschaftssystems dermassen in die alltägliche Organisation der Gesellschaft integriert haben, dass man ausgelacht wird für den Vorschlag, die Welt könnte auch anders organisiert werden. Es sind grosse Fragen, die sich uns stellen: Wie absolut gelten sogenannt empirische Erkenntnisse? Was ist Wahrheit? Was ist eine Meinung?
Ich weiss, in meinen Kolumnen vertrete ich auch oft eine Meinung, von der ich irgendwie glaube, dass sie den Verhältnissen und Zusammenhängen in der Welt gerecht wird. Aber vielleicht ist im Moment etwas anderes angesagt. Vielleicht sollten wir alle mal eine grosse Demo machen, bei der wir uns auf die Transparente schreiben: «ICH HABE NOCH LÄNGST NICHT AN ALLES GEDACHT! HILFE!» Und dann an konkreten Problemen zusammen Lösungen suchen. Auch wenn sie vielleicht mal die Partei vorschlägt, die uns sonst nur aufregt.
Ohne ein paar Grundsätze geht es nicht: Menschen sind gleich viel wert, egal, wie sie aussehen und wo sie herkommen. Und sie verdienen einen respektvollen Umgang, wie alles in der Schöpfung und die Schöpfung an sich. Soviel müsste gelten. Und danach tut man sein Bestes, immer im demütigen Bewusstsein, dass man vielleicht auch gerade wieder mal das Wichtigste vergisst.
Eine der schönsten Verabredungen hatte ich vor ein paar Jahren mit meinem Religions- und Philosophielehrer aus dem Seminar, Urs Schweizer. Er schrieb mir: Christoph, lass uns doch mal wieder zusammensitzen und austauschen über den aktuellen Stand unseres Irrtums.