„Es isch ke Wettbewärb“, ist zu einer der am häufigsten verwendeten Aussagen in meinem Alltag geworden, seit ich Vater bin und die Kinder gross genug sind, um von ihren Erfahrungen und Begegnungen zu erzählen. Sich zu vergleichen ist wohl in der menschlichen Natur eingebaut. Wir Eltern haben nie zu unserer Tochter gesagt: Schau mal, wie gut deine Freundin das kann, sie ist besser als du. Kinder vergleichen sich von selbst, und wenn dann das Ergebnis so eines Vergleiches berichtet wird, müssen wir Eltern irgendwie darauf reagieren.

„Es isch ke Wettbewärb.“ Manchmal meine ich es tröstend. Die eine Freundin unserer Tochter ist unglaublich geschickt, kann überall hochklettern, schlägt aus Langeweile perfekte Räder im Vorbeigehen. Das ist ihr spezielles Geschenk, sage ich dann jeweils, wenn unsere Tochter enttäuscht ist, dass ihr all das schwerer fällt. Oft erwidert sie darauf etwas wie: „Dafür bin ich grösser“, weil es aus ihrer Sicht irgendeinen Ausgleich geben muss, sonst ist es nicht gerecht. Auch das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ist angeboren.

„Es isch ke Wettbewärb.“ Manchmal meine ich es auch zügelnd. Wenn sie voller Stolz erzählt, dass sie etwas am schnellsten und am besten konnte in der Schule, dann freue ich mich natürlich mit ihr und bestärke ihre Freude daran. Oftmals geht es aber um Arbeiten, die sie auch nicht vorher geübt hat oder bei denen ihr kein besonderer Einsatz abverlangt wurde, und dann weise ich sie auch mal darauf hin, dass sie da ihrerseits ein Geschenk bekommen hat, und dass die anderen Kinder deswegen nicht „schlechter“ sind. Es ist eine Gratwanderung zwischen ermutigender Anerkennung und sanftem Hinweis auf die Tugend der Demut: Dankbarkeit statt Stolz. Die englische Sprache trifft es präzise:  Das Wort „gift“ bedeutet sowohl Talent wie auch Geschenk.

„Es isch ke Wettbewärb“, kann Papi noch lange sagen, es stimmt natürlich nicht. Die Welt da draussen wird sehr wohl als Wettbewerb gestaltet. In der Schule mit Noten und Pausenplatzrangordnungen, in den Sozialen Medien mit Likes und Verbindungen, in vielen Berufen sowieso, manchmal sogar in Beziehungen und Freundschaften (Stichwort BFF). Und in der Politik erst recht. Die Zeitungen sind voller Ranglisten: Reichtum, Relevanz, Rentabilität. Alles wird gemessen und verglichen. Demut mag eine geachtete moralische Tugend sein, aber jemanden offen dazu aufzufordern ist ein Affront. Den „realistischen“ Menschen ist sowieso klar: Demut (wie viele andere Tugenden) bringt einen weniger rasch voran, als zweifelhafte Eigenschaften wie Rücksichtslosigkeit, Egozentrik und der Wille zu Dominanz. Damit kommt man voran. Aber wohin? Man gewinnt im Wettbewerb. Aber was ist da zu gewinnen? Wirklich geniessen kann man es ja nur, wenn man sein Herz verschliesst für die Verlierer, die es in dieser Logik zwingend auch gibt. Und wer will schon sein Herz verschliessen?

„Es isch ke Wettbewärb“, stimmt also nicht, die Kinder ahnen es schon. Und auch in Bezug auf ihr Bedürfnis nach Gerechtigkeit wird das ernüchternde Gespräch unausweichlich sein: Eine für uns nachvollziehbare Gerechtigkeit gibt es im Leben nicht. Wir werden geboren mit Stärken und Schwächen, in wohlhabenden Weltgegenden oder in Armut und Krankheit, Schönheitsidealen entsprechend oder nicht. Und während die einen auf einem Platz in der Sonne  geboren werden und bestens gedeihen, haben andere von Anfang an kaum eine Chance. Den gerechten Ausgleich scheint es in der sichtbaren Welt nicht zu geben.

Es ist nicht die einzige bittere Lektion, die kleinen Menschen bevorsteht. Aber gerade deshalb bleibe ich als Vater wohl noch eine Wiele bei meinen idealisierenden Sprüchen. Wir können unseren Kindern nicht ersparen, sich den Bewertungen und Vergleichen zu stellen. Wir in der Schweiz Geborene haben in vielerlei Hinsicht einen unglaublich guten Startplatz. Es wäre es doch immerhin schön, wenn unsere Kinder der Welt da draussen als sympathische Menschen mit dankbaren, offenen Herzen begegnen, und nicht als eingebildete Hennen und Gockel. Das ist eine zwischenmenschliche Herausforderung, aber auch eine Hochpolitische. Als Menschen (und als Nation mit Sonnenplatz): Sich die Ungerechtigkeit nicht zu nutzen machen, sondern sie zu  bekämpfen. Da gibt es nämlich sehr wohl Gutes zu gewinnen.