Kennen Sie die Momente, wenn der Geduldfaden ohne wirklich erklärbare Gründe etwas dünner ist und einem plötzlich ungefähr alle Menschen wie die, pardon, letzten Idioten vorkommen? Es gibt dann Herausforderungen, die man besser meiden würde, und keine Alltagssituation führt mir das nachdrücklicher vor Augen als der Strassenverkehr.

Die Autobahn A1 zum Beispiel, wo einem Grossverdiener oder Möchtegerngrossverdiener in glänzenden Boliden mit gefühlten 160 km/h und zittriger Hand an der Lichthupe sofort aus dem Weg haben müssen, damit nicht die nächste Wirtschaftkrise ausbricht. Wenn ich dann kurz darauf bei der nächsten Ausfahrt hinter ihnen an der Ampel warte, kann ich mir zwar ein Schmunzeln nicht verkneifen. Aber vorhin, ich gestehe es, habe ich unschöne Dinge in die Führerkabine gerufen. Es hilft in diesem Momenten auch nicht, mir bewusst zu machen, dass ich selber an jedem durchschnittlichen Tag dutzende Gründe liefere, mich einen Idioten zu schimpfen.
Item. Das alles wird mich nun nicht mehr so belasten, denn ich bin jetzt gestählt, ich habe nämlich eine kleine Türkeireise mit einem Mietauto gemacht, und ich lebe noch. Ein mir bekannter Türke hat mir im Vorfeld erzählt, bei ihnen im Land bestrafe man Übeltäter, indem man sie einmal von West nach Ost und zurück durch das Land fahren lasse, und wenn sie überleben, seien sie frei. Ernster gemeint hat er den Hinweis, auf keinen Fall nach Einbruch der Dunkelheit noch zu fahren. Es war nicht die einzige solche Warnung, wenn ich von den Reiseplänen erzählt habe, und ich habe sie bald verstanden.
Ich habe mich nicht informiert, ob es in der Türkei legal ist, rechts zu überholen, alle tun es, das muss aber nichts heissen. Denn auch rote Ampeln sind keine zwingenden Signale. Zuerst habe ich gestaunt, dass ich immer der Schnellste war mit Losfahren, wenn es grün wurde. Dann verstand ich: Die Einheimischen warten zuerst noch kurz ab, ob wirklich keiner mehr kommt, der bereits rot hätte. Lustig war es auch, wenn ich auf der Autobahn freundlich sein wollte, und jemandem Platz machte um Spur zu wechseln. Keine Reaktion, also betätigte ich die Lichthupe zum Zeichen: Es ist okay, du kannst kommen, ich habe dich gesehen. Erst recht keine Reaktion. Erst nach fast zwei Wochen unterwegs hatte ich es durchschaut. Lichthupe heisst: Jetzt komme ich. Zurückhaltendere Signale gibt man mit der richtigen Hupe. Als anständiger, leiser Schweizer habe ich das natürlich falsch verstanden, denn wenn ich angehupt werde, zuckt mir der Mittelfinger, bevor sich mein Hirn einmischen kann (siehe oben).
Das Ganze hat mich ein bisschen erinnert an eine Geschichte aus Asien, wo ein Volk offenbar den Kopf schüttelt um Ja zu sagen, und Nicken bedeutet Nein. Gut, wenn man das vorher weiss. Überhaupt natürlich sinnvoll, nicht einfach davon auszugehen, dass irgendwer zwingend dieselben Dinge für normal hält, wie man selbst. Das gilt auch schon im eigenen Land und Kanton. Und erst recht beim Blick in die Ferne: Als Schweizer und Westeuropäer entspricht unsere Alltagswelt längst nicht nur im Strassenverkehr ganz und gar nicht dem, was der Grossteil der Menschen „normal“ nennen würde.
Dazu nochmal eine schöne kleine Auto-Geschichte aus der Türkei. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal in Istanbul war, konnten wir im Geschäftsauto eines Unternehmers mitfahren. Er sah mir wohl die Panikattacken an, die mich ereilten, während der Fahrer hupend, kurvend und fluchend durch die chaotische Innenstadt navigierte. Der freundliche Mann lächelte milde und sagte, so sei das halt. Er sei einmal in der Schweiz auf einer Konferenz gewesen und habe dort mit Kollegen ein Auto gemietet um sich noch andere Orte anzusehen. Kurz nach der Einfahrt in die erste Stadt seien sie von einer Polizeistreife aus dem Verkehr gezogen worden. Die Polizisten sagten, sie hätten bereits mehrere Anrufe bekommen, ein Wahnsinniger sei unterwegs in die Stadt. „Dabei bin ich ganz normal gefahren wie zuhause“, schmunzelte er.