Heute bin ich aufgewacht in einem warmen, weichen Bett. Zwei gesunde Kinder haben Hunger, und ich kann ihnen Frühstück anbieten: Im Brotkorb, im Müesliglas, in der Fruchtschale, im Kühlschrank, überall hat es was. Auch Geschirr haben wir. Ein Gewehr brauchen wir nicht. Wir sind immer noch barfuss, die Bodenheizung läuft. Der Nachbar schickt uns Wärme rüber. Sein Haus steht noch, ich weiss es, ohne nachzuschauen. Manchmal müssen wir uns dann plötzlich beeilen, der Kindergarten beginnt bald. Ja, es gibt einen Kindergarten hier. In der Morgeneile finden wir Kleider, warm genug für einen Waldmorgen im Dezember. Wir haben ein Badezimmer, dort kann man die Zähne putzen, bevor man aus dem Haus geht. Wir haben auch Frottétücher, ein WC mit Spülung und Kanalisationsanschluss, WC-Papier. Ich bringe mit dem Veloanhänger zuerst die Grosse zum Kindergarten. Die Lehrerin, die dort wartet, hat eine Ausbildung und Lohn, sie trägt die Haare offen, sie darf das.
Dann fahre ich weiter zum Waldrand und bringe die Kleine in die Kita . Die Frauen in der Kita freuen sich, obwohl unser Kind die Übergabe momentan nicht mag, sie schicken wenig später ein Foto: Kind ist wieder zufrieden. Die Kita-Frauen haben Handys und können Fotos machen. Krankenkasse haben sie auch. Auf dem Heimweg fahre ich an Häusern vorbei mit Dächern, mit Wänden, mit Fenstern, mit Menschen, die Altersvorsorge haben.
Zuhause mache ich mich an die Arbeit. Eine Luxusarbeit, ich mache Musik. Menschen in meiner Welt haben Zeit und Geld und Geräte um Musik zu hören. Meine Welt kennt auch Lokale, in denen Musik live gespielt werden kann, Leute kommen um zuzuhören, sie riskieren dafür kein Gefängnis, sie werden nicht einmal geschlagen auf der Strasse. Manchmal schreibe ich auch, jetzt zum Beispiel, ich kann schreiben, das habe ich mal gelernt, ich schreibe für eine Zeitung, die extra für ein Tal gemacht wird. Ein schönes Tal, das seine Panzersperren nicht mehr braucht. Es hat auch Strom, Strassen und Trottoirs, und keine Rebellen in den Wäldern.
Ich bin aus dem Tal weggezogen, obwohl ich es sehr mag da, aber ich bin in der Nähe, ich muss auch nicht weg, nicht in einem Lastwagen mit zu wenig Luft und zu vielen Leuten, nicht auf einem sinkenden Boot, nicht zu Fuss durch eine Wüste, ich kann einfach ab und zu in den Zug steigen und zurück ins Tal fahren.
Wir haben Stühle. Auch das ist nicht selbstverständlich, aber ich kann auf einen Stuhl sitzen und eine Tasse Kaffee trinken und nachdenken.
Ich denke an meinen Freund Vitja, der nun trotz Militäruntauglichkeit in der Ausbildung zum Soldaten ist, vielleicht schon unterwegs an eine der Fronten in der Ostukraine.
Ich denke an meine Bekannte Paula aus New York, die auch in ihre Heimat zurück ist, nach Israel, das Letzte, was ich aus den sozialen Medien weiss, ist, dass sie im Sommer mit ihrem kleinen Kind irgendwo in der Natur war.
Ich denke an meine Kollegin Jennifer, die mit einheimischen Musikern durch Palästina getourt ist, unter steten Schikanen und unbegründeten Kontrollen von Checkpoint zu Checkpoint um einen Nachbarort zu besuchen, und ich weiss nicht, wie viele von ihnen noch leben, ein Dach über dem Kopf haben, Geschwister haben.
Ich versuche an 647 Millionen Menschen zu denken, die mit Gedanken und Hoffnungen und Mägen in extremer Armut leben, und ich weiss gar nicht, wie man an sie denken kann.
In ein paar Tagen werden wir zusammen singen und essen, uns hier und da über unwichtige Dinge streiten, dann wieder lachen und aus unserem Alltag erzählen, als ob er normal wäre. Ich freue mich darauf. Das darf ich. Es hilft niemandem, wenn wir unser grösstes Geschenk nicht auspacken und wertschätzen: Dass wir in Frieden und Liebe zusammen sein können. Vielleicht können wir ja einen Satz mehr in unser Tischgebet nehmen am Heiligabend: Dankbar und demütig wissen wir, dass wir in eine Ausnahmesituation geboren sind, hilf uns, das nicht für selbstverständlich zu halten, hilf uns zu teilen, hilf uns grosszügig und liebevoll zu sein mit jener Mehrheit von Menschen, die in der normalen Welt leben.