Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wir hören das als Konzept von Selbstjustiz und Rache. In einem Bibel-Podcast («Unter Pfarrerstöchtern» von Die Zeit) habe ich erfahren, dass dieses archaische Gebot eigentlich ein Aufruf zur Mässigung war: Für ein im Kampf verlorenes Auge soll der Täter nicht mit seinem Leben büssen müssen. Für die Zeit in der diese Regel galt (oder je nach Glaube, von Gott eingeführt wurde) war sie also immerhin ein Fortschritt, im Bewusstsein, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt, auch wenn sie sich als Rache rechtfertigt. In der dunklen Logik der Gewalt endet die Spirale der gegenseitigen Rachefeldzüge nur, wenn der Feind mit all den Seinen ausgerottet wird.

Aber es gibt immer Angehörige und Hinterbliebene. Rache funktioniert vielleicht als Ventil, aber nie als Lösung. Auch wenn es Generationen dauert, der Gegenschlag wird kommen. Die Drohung hängt in der Luft. Der einzige Ausweg wäre, aufeinander zuzugehen, ein Zusammen zu entwickeln. Das ist der schwierigere Weg, er braucht wahnsinnig viel Geduld, weil man sich dafür gemeinsam um die Wunden kümmern muss, die in der Zeit der Kämpfe entstanden sind.

Man kann diese Mechanismen auf zwischenmenschliche Beziehungen anwenden: Immer wieder stellt sich die Frage, ob man dem Gegenüber seinen Willen und seine Sichtweise aufzwingen will, oder ob man es auch im Konflikt schafft die Nähe wieder herzustellen und eine gemeinsame Lösung zu suchen.

Aber meine Gedanken sind in Palästina und Israel, jener Weltgegend, die Gott schon vor Jahrtausenden zur Mässigung aufgerufen hat. Kurz darauf hat er sie auch dazu aufgefordert, ganze Städte und Völker niederzumachen. Die alten Schriften sind keine grosse Hilfe. Seit Jahrtausenden dreht sich die Spirale der Gewalt, das Volk der Juden entkam ihr auch nicht in der ganzen Welt verstreut. Was kann ein Ausweg sein? Gerade schauen wir fassungslos zu, wie eine wirkliche Lösung wieder für mehrere Generationen unmöglich wird. Die Ausrottung der Gegenseite, wie sie Extremisten beiderseits vielleicht erträumen, ist nicht umsetzbar, dafür ist die Welt längst zu verstrickt. Wie will man aufeinander zugehen nach dem Massaker an unschuldigen israelischen Menschen, das eine Nation traumatisiert hat und sich dramatisch auf den Alltag jüdischer Menschen weltweit auswirkt? Wie nach diesem Gegenschlag der Netanyahu-Regierung, der sich Anti-Hamas Kampagne nennt, aber effektiv die Lebensgrundlage aller Menschen vor Ort niedermacht. Und die Menschen dazu. Die Zahl getöteter Kinder wird aktuell auf über 4000 geschätzt. Ich stelle mir meine kleinen Töchter vor, Ihre Kinder, totenkalt unter Schutthaufen mit allen ihren Talenten und Hoffnungen. Da kann man mir noch lange erklären, es hätten sich Terroristen im Quartier befunden, ich wüsste nicht, wie ich je Vergebung für eine solche Rücksichtslosigkeit finden sollte.

Diese Hilflosigkeit, wenn wir die Nachrichten hören. Ich sitze in der sicheren Schweiz und versuche wenigstens mitzufühlen. Was kann ich sonst tun? Vielleicht mich fragen was diese Mechanismen auch mit mir zu tun haben. Zwei Völker nehmen sich heraus, das andere kollektiv zu verurteilen, ohne Unterscheidung zwischen (unschuldigen und schuldigen) Individuen. Bin ich anders? Wenn ich über Migrantinnen und Migranten nachdenke? Wenn ich Afrika sage, obwohl ich weiss, dass es ein Kontinent mit vielen Kulturen und Völkern ist? Würde man mir zugestehen ein Individuum mit kritischen Ansichten zu sein, nicht einfach einer der Profiteure im Norden, der es sich gut gehen lässt, während Menschen im Süden mit blossen Händen nach Rohstoffen für mein Handy graben? Ich lasse persönlich niemanden auf der Suche nach einem besseren Leben im Mittelmeer ertrinken. Laut Statista.com sind das aber 28’189 Menschen seit 2014. Werden ihre Angehörigen mich nach meiner persönlichen Haltung fragen, wenn sich ihre Hoffnungslosigkeit, ihr Schmerz und ihre Wut eines Tages in meiner Nähe entladen? Was kann ich tun, in meinem Leben und meiner Welt, um sichtbar auf jene zuzugehen, die sich unterdrückt fühlen vom System, zu dem ich gehöre? Vielleicht sind ja doch im Alltag hier und da kleine Entscheidungen möglich, die die Spirale der Gewalt zumindest nicht antreiben.