Ich weiss, die Sommerferien-Lesetipps sind eigentlich passé. Aber ich habe Ihnen trotzdem zwei Tipps. Mit einer Warnung: Die Schlusskapitel dieser Bücher haben mich so furchtbar aufgeregt, dass ich sie am liebsten rausgerissen hätte – zunächst. Später habe ich dann bemerkt, dass ausgerechnet diese zwei Bücher ganz tiefe Spuren hinterlassen haben.

Das erste ist fast ein Jugendbuch: «Der Fänger im Roggen» von J.D. Salinger habe ich als spätpubertärer Rebell im Lehrerseminar entdeckt. Ich konnte die Hauptfigur bestens verstehen: Den 16-jährigen Holden Caulfield, der von der Schule geschmissen wird, aber anstatt nachhause zu seiner (gar nicht so schlimmen) Familie zu gehen, treibt er ein paar Tage durch New York und findet alles peinlich und unecht, eine Pose: Die Erwachsenen, die Gleichaltrigen, die Mädchen, die Gespräche. Er fantasiert sich Möglichkeiten, diesem Gepose im Dienst unwichtiger Werte zu entkommen. Ich habe mitgefiebert und war fassungslos, als er am Ende des Buches seiner kleinen Schwester zuliebe heimkehrt und sogar etwas milde wird. Erst als ich ein zweites Mal zum Schluss gelangte, begriff ich, dass Holden schlicht bemerkt hatte, wie auch sein harter Sarkasmus eine Pose war: Die eines unreifen Bengels (logisch, mit 16), der nicht wahrhaben will, dass die Gesellschaft differenzierter betrachtet werden könnte. Es ist eigentlich Erlösungsgeschichte, Erlösung aus dem Gefängnis der Negativität. Aber halt auch eine Kapitulationsgeschichte. Es tut weh sich seine Unreife einzugestehen. Man akzeptiert, dass einem andere vielleicht doch etwas beibringen können. Ausgerechnet Erwachsene! Autsch. Aber auf wem Weg zum Erwachsenwerden ist das wohl ein unvermeidlicher Schritt. Das Buch hat mir einen ordentlichen Tritt in den Hintern gegeben: Gerade weil ich es liebte und mit dem Schluss so haderte.

10 Jahre später ist mir etwas ähnliches passiert, mit dem Roman «Zeit der Unschuld» von Edith Wharton. Die Geschichte spielt in der New Yorker High Society des frühen 20. Jahrhunderts, wo sich der angesehene, grüblerische Newland Archer kurz vor seiner Verlobung verliebt, in die Cousine seiner Braut. Ellen Olenska ist eine geschiedene (und somit geächtete) Rückkehrerin aus Europa. Eine gegenseitige Liebe glimmt auf, es ist offensichtlich, dass Ellen deutlich besser zu Archer passen würde als seine liebenswerte, aber nicht sehr tiefgründige Verlobte. Aber es soll nicht sein, die Konventionen, unerwartete Ereignisse und Respekt vor den Betroffenen eines potentiellen Skandals verhindern, dass die grosse Liebe gelebt werden kann. Das tat weh beim Lesen, aber so richtig empört war ich, als der gealterte Archer selbst nach dem Tod seiner Frau eine weitere Chance ausschlägt, Ellen vielleicht doch noch nahe zu kommen. Freiwilliger Verzicht auf wahre Liebe. Schwer vorstellbar für den Romantiker, für den ich mich damals hielt.
In meiner Empörung zog ich Sekundärliteratur zu Rate, und fand Erstaunliches: Wharton hatte das Buch nach ihren Erfahrungen als Helferin in den Lazaretten des ersten Weltkrieges geschrieben. Eine neue Art von Krieg damals, maschinell und skrupellos, ein Krieg ohne Soldatenehre, wo Jahrhunderte alte Konventionen des Kriegsrechts schlicht gesprengt wurden. Der Krieg findet im Buch nicht statt, die Hauptfiguren harren sozusagen in den Schützengräben ihrer Beziehungsgeflechte aus. Aber obwohl sie es könnten, weil rund um sie herum die gesellschaftlichen Konventionen sowieso bereits ins Wanken geraten, schonen sie ihr direktes Umfeld und verzichten auf den Tabubruch. Rücksicht und Verantwortungsbewusstsein vor Romantik und Leidenschaft. Das ist gerade in der Kunst kein sehr populäres Ideal. Hingegen wenn man vorhat, dereinst eine Familie zu gründen…

Ich empfehle Ihnen jetzt nicht unbedingt diese beiden Bücher, Sie sind sicher schon viel reifer, als ich es damals war. Aber ein Buch (oder einen Film, oder ein Lied), das sie zwar packt, aber auch ein bisschen nervt und herausfordert, das wünsche und empfehle ich Ihnen vorbehaltlos.