Beschäftigt Sie manchmal auch die Frage, woher eigentlich die Werte kommen, nach denen wir leben? Die Erziehung spielt sicher eine Rolle, das familiäre Umfeld, das Milieu, in dem man aufwächst. Vor einiger Zeit habe ich hier die Kolumne «Ich bin kein Linker» veröffentlicht, wo ich zum Schluss gekommen bin, dass viele meiner persönlichen Werte, die politisch als «links» definiert werden, eigentlich auf meine Kindheit und Jugend in einer Frutiger Freikirche zurückgehen: Für Schwache einstehen. Vergebung als Ziel, auch bei wiederholten Fehlern. Sorge tragen zur Schöpfung. Das Rechts-Links-Schema habe ich erst mit fast 20 verstanden, als ich längst geprägt war.

Für die Erforschung meiner Prägungen habe ich zum Beispiel «Der Graf von Monte Christo» von Alexandre Dumas wiedergelesen. Als Jugendlicher war es drei Mal meine Sommerferien-Lektüre. Das muss Spuren hinterlassen haben. Aber die 1000 Seiten-Recherche war nicht ergiebig. Dass sich Rache nicht lohnt, war zwar eine gute Erkenntnis (sie schafft einerseits neues Leid, andererseits widmet man seine eigene Lebenszeit einer sehr destruktiven Energie), aber glücklicherweise sind Rachegelüste nicht mein Thema.

Aufschlussreicher war das Nachhören alter Musikalben. Rockmusik, die Kultur der Alternative, der Systemkritik. Für die christlichen White Metal Bands, die ich in den Jugendjahren vor allem gehört habe, waren die Texte natürlich wichtig. Dort habe ich Spuren gefunden zu Fragen und Gedanken, die mich geprägt haben könnten: Hoffnung auf Frieden, in der Welt und der Gesellschaft, aber auch mit sich selbst. Vertrauen darauf, dass «das Gute» sich durchsetzen kann. «Das Gute» ist im White Metal natürlich Gott, und zu Gott gehört auch die Ergebenheit vor seiner Allmacht. Oder weniger religiös ausgedrückt: Demut im Angesicht der ungeklärten Fragen darüber, warum es gibt, was es gibt, warum wir sind, wie wir sind, worum es geht im Leben, was richtig und was falsch ist.

Apropos richtig und falsch, Gut und Böse: Viel Zeit verbracht habe ich damals auch mit Comics. Aus erwachsener Perspektive wirken die Stories albern. Spider Man hat nach einem Spinnenbiss Superkräfte, wird aber trotz guter Taten als fremdartiges Wesen gefürchtet und gejagt. Superman, ein Ausserirdischer mit Superkräften, tarnt sich auf der Erde (die er immer wieder mal rettet) als schüchterner Journalist und ein «normales Leben» bleibt ihm verwehrt. Als Teenager hat mich das abgeholt: Charaktere, deren Körper seltsame Veränderungen durchmachen und die sich fremd fühlen in einer Welt, die sie nicht versteht. Gut gegen Böse. Superman hat in einem Sonderheft Mitte der 80er Jahre alle Atomwaffen der Erde in die Sonne geschleudert. Atomwaffen und Krieg, das war böse. Aber die Welt, die verteidigt wurde, waren die USA, und entsprechend materialistisch und kapitalistisch. Das ist nicht meine ideale Welt geworden.

Und das bringt mich zu meiner liebsten Schlussfolgerung aus dem Studium meiner Prägungen: Nichts hat wirklich funktioniert. Erziehung, Bildung und kulturelle Einflüsse werden immer wieder mal als «Gehirnwäsche» bezeichnet. Aber bei mir, wie wohl bei den allermeisten Menschen, versagt die Gehirnwäsche glücklicherweise: Wir sind komplexer, unsere Werte vielschichtiger, wir sehen mehr Graustufen als die Schwarz/Weiss-Gut/Böse-Schematik. Wir hinterfragen die Perspektiven von Eltern und Lehrpersonen. Wir lesen Zeitungsartikel (und Kolumnen) und schütteln den Kopf und sagen (zum Beispiel): Da hat der Trummer aber einiges nicht mitgedacht, was auch dazugehört. Diese Komplexität erschwert zwar die Antwort auf meine Frage, was uns wie geprägt hat, aber sie beruhigt mich angesichts der Dauerbeschallung aus Werbung und Medien, die uns alltäglich bedrängt: Wir sind nicht einfach ausgeliefert. Wir ordnen ein und machen selbst eine Wertung. Zumindest könnten wir das. Und so gesehen kann ich ohne Sorge auch immer wieder Stimmen zuhören, denen ich widersprechen möchte. Es kann mir nicht Schlimmes passieren. Interessiert und skeptisch zuhören,  nicht alles glauben, aber zugeben können, wenn etwas offenbar stimmt. Hm. Wo ich das wohl gelernt habe?