Hatten Sie auch so einen Spitznamen in der Kindheit? Ich habe im Widischulhaus Frutigen die Unterstufe besucht als eines dieser «glücklichen» Kinder: Grosse Schaufeln («Hey Hasezahn!»), Sommersprossen («Gsicht verschisse!»), schielend und frisch an einem Auge operiert («Brülleschlange!»), und ich spielte lieber mit Actionfiguren («Bäbele!») als Fussball. Seit Generationen wurden wir Trummers «Trümi» genannt, und da ich bereits ein dankbares Opfer abgab, hörte ich auf dem Pausenplatz bald das schöne Värsli vom «Trummer mit Chummer», aus «Trümi» wurde «Chümi», und so hiess ich dann während meiner vier Jahre dort.
Keine Sorge, ich heische nicht um Ihr Mitleid. Ich hatte Glück und wurde aus irgendeinem Grund mit einem robusten Selbstbewusstsein und einer grossen Schnauze geboren. (Vielleicht mit ein Grund, dass ich nicht übermässig beliebt war: Ein Besserwisser schon damals.) Ich litt zwar an meiner Unbeliebtheit, aber ich konnte mich wehren und sah meine Lage eher als Dummheit der anderen, denn als Resultat meiner Schwächen. Wie gesagt: Glück gehabt.
Einige Jahre später habe ich den Song « A Boy Named Sue» von Johnny Cash entdeckt. Der Erzähler beschreibt, wie sein Vater ihn «Sue» getauft hat und dann die Familie verlassen. Viele schwierige Jahre später findet Sue den Vater und will Rache. Es gibt eine üble Schlägerei, der Sohn gewinnt die Oberhand und hat die Waffe bereits auf den alten Vater gerichtet, da bittet der nur um die Gelegenheit sich zu erklären. Er habe ihn Sue getauft, weil er wusste, dass er nicht bei der Familie bleiben könne, aber wollte, dass sein Sohn zäh werde und sich wehren könne. Und offensichtlich habe das funktioniert – und nun dürfe er ihn töten. Und dann? Der Sohn lässt ab, einigermassen gerührt, aber … immer noch stinkwütend. Die Liveaufnahme des Stückes endet mit einem Zensurton: «I still hate that (beeep).»
«Die möge ja nümm verlyde hützutags!» Das hört man immer wieder, wenn dieser Tage über «Wokeness» diskutiert wird. Vom Schokogebäck über das Körpergewicht bis zu allen möglichen Formen von psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen, nichts darf man mehr so nennen, wie wir es früher genannt haben. «Es ist ja nicht böse gemeint. Die sollen sich doch beruhigen. Haben die keine anderen Probleme?» Es ist bereits absehbar, dass dieses Thema auch im Wahlkampf diesen Herbst eine Rolle spielen wird. Ich reibe mir die Augen und denke auch: Hat die Politik keine anderen Probleme? Die sollen sich doch beruhigen. Ist es tatsächlich so schlimm, ein paar neue Wörter in den Wortschatz aufzunehmen?
Ich gebe zu, die Gehässigkeit, mit der die Debatte von beiden Seiten geführt wird, schreckt auch mich manchmal ab. Es ist viel Wut im Spiel und viele Vorwürfe, oftmals auch von Seiten jener, die für mehr Akzeptanz kämpfen. Es würde dem Thema sicher helfen, wenn mehr aufeinander zugegangen würde und man sich gegenseitig weniger böse Absicht unterstellen würde. Nicht alle, die ihren Wortschatz nicht anpassen, sind intolerante Rassistinnen oder Frauenhasser. Solche Prozesse brauchen Zeit. «Für» Verständnis zu werben ist meist erfolgreicher als «gegen» alte Gewohnheiten zu kämpfen. Das Kind in mir hat aber auch Verständnis dafür, dass man einfach mal wütend wird, wenn man die immergleichen doofen Sprüche hört.
Persönlich habe ich sicher immer noch viele blinde Flecken, aber ich versuche, meinen Wortschatz und mein Bewusstsein zu erweitern. Ich habe damit nicht das Gefühl, irgendeiner neuen «Wokeness»-Religion beizutreten. Im Gegenteil, mich überzeugen traditionelle Werte, die ich in meiner Kindheit gelernt habe: Anstand. Freundlichkeit. Nächstenliebe. Wenn ich gebeten werde, jemanden anders zu nennen, weil ein Ausdruck, den ich verwendet habe, als beleidigend oder schlicht nicht zutreffend empfunden wird, was hindert mich, einfach zu sagen: Oh, entschuldige, ich wollte dir nicht wehtun, ich passe das natürlich an. Von Mensch zu Mensch.
Aber vielleicht bin ich da zu altmodisch?