Bei einer Stellvertretung bin ich in eine interessante Situation geraten. Die Oberstufenklasse war ein ziemlich bunter Haufen, einige Jungs und Mädchen wirkten schon fast erwachsen, andere waren einfach grosse Kinder, es hatte Geschminkte und Gestylte dabei, es hatte aber auch ein paar mit Zöpfen und Pfannenfrisuren. Ihre Lehrperson war frühpensioniert worden, ich war bereits der vierte Stellvertreter.

Schon in der ersten Lektion spürte ich, dass etwas seltsam war. Die Klasse war ruhig, aber die Ruhe war mir ungeheuer.

Schülerinnen und Schüler warfen einander neugierige Blicke zu. Es lag etwas in der Luft, etwas würde passieren und ich wusste nicht was. Ein Streich war es kaum, niemand verkniff sich ein Lachen. Vielleicht hatten sie zuvor eine Stellvertretung gehabt, die rasch ausrastete?
Vor der Mittagspause kamen ein paar der Jugendlichen zu mir. Ob ich schon einen Plan für die Klassenstunde am Nachmittag hätte? Nein. Sie würden gerne etwas mit mir besprechen. Ja, klar.

Am Nachmittag übergab ich das Wort den beiden Klassenvertretungen, einem sehr reif wirkenden Mädchen und einem kräftigen Jungen.
«Wir haben mehrere Themen», sagte er.
«Zusammenfassend geht es darum, dass wir die alte Klassenordung zurück wollen», sagte sie.
«Was wurde denn geändert?», fragte ich zurück.
Verschiedene Schülerinnen und Schüler meldeten sich.
Früher habe man sich allerhand Spässe erlauben können, es sei ja nie etwas böse gemeint. Der Lehrer habe mit gelacht, man habe nicht dauernd befürchten müssen, etwas Falsches gesagt zu haben.
Früher hätten auch die Diskussionen mehr Spass gemacht, es habe schöne Rededuelle zwischen den offensichtlich Gescheitesten gegeben, ein feuriges Hin und Her, nicht so moderierte Runden, in denen alle etwas sagen mussten.
Früher hätten jene die wichtigen Aufgaben übernommen, die dafür auch am besten geeignet waren, und das seien halt jene, die darin am meisten Erfahrung hätten, weil teils schon ihre Eltern diese Ämtli gehabt hätten. Und für die anderen Schülerinnen und Schüler gebe es ja auch gute Aufgaben, etwas weniger schwierige halt, Putzen und Aufräumen zum Beispiel.
Und jetzt sei alles so mühsam geworden.
«Inwiefern?», habe ich nachgefragt.
Naja, sagte die Klassensprecherin, zum Beispiel würde jetzt Angela, die kleine Dünne dort hinten, die früher nie ein Wort gesagt habe, dauernd die Hand hochhalten und sich einmischen. Aber sie rede dann so leise und langsam, kein Wunder, dass man sie vorher nie gehört habe.
Ich blickte in die Runde und erkannte Angela, ihr Kopf lief rot an und sie sagte leise aber bestimmt: «Was tut es zur Sache, dass ich klein und dünn bin?»
«Du bist ja klein und dünn, ich weiss auch nicht, was du hast», antwortete die Sprecherin.
«Und was tut das zur Sache?», wiederholte Angela.
«Sehen Sie», maulte die Klassensprecherin, «so Zeug sagt sie dann!»
«Wenn das so weitergeht, wollen sie noch mit uns Fussball spielen!», rief einer der grossen Jungs.
«Genau, sogar Benny, der dann wieder so behindert herumrennt wie ein Schwuler!», gröhlte der Klassensprecher, und einige lachten mit, aber nur kurz, denn fast die Hälfte der Klasse rief: «Aufhören, ihr Deppen!»
Ich räusperte mich, vielleicht war es langsam an der Zeit einzugreifen. Andererseits…
Der Pultnachbar von Benny war aufgestanden und hinkte mit einem schief stehenden Fuss lächelnd auf den Sprecher zu. «So behindert wie ich, meinst du?» «Oder eher so schwul wie ich?», fragte einer der anderen Jungs fröhlich.
Die Klassensprecherin raufte sich die Haare und zeigte auf mich. «Sehen Sie das? Tun Sie was! So tun Sie doch etwas!»
Ich zuckte die Schultern.
«Sie zucken nur die Schultern?!» Der Klassensprecher blickte mich entgeistert an. «Sagen Sie uns was wir tun sollen!»
«Gute Frage», sagte ich.
«Freundlich bleiben ist immer gut», sagte eines der Mädchen mit Zöpfen.
«Veränderung ist anstrengend», sagte Angela, «aber ihr gewöhnt euch dann schon dran.»

(Die Geschichte ist natürlich erfunden. Aber wahr. Und was Sie an meiner Stelle getan hätten, würde mich natürlich interessieren.)