Angeeignet, beziehungsweise ungeeignet
«Ich habe Thai-Food bestellt, darf ich das noch, oder ist das kulturelle Aneignung?» Solche Witze haben wir wohl alle einige gehört in den letzten Wochen. Die aktuelle öffentliche Debatte zeigt, wie kontraproduktiv ein allzu ungeeignetes Beispiel als Ausgangspunkt für eine eigentlich sinnvolle Diskussion sein kann.
Dass eine Band gestoppt wird, weil sie Reggae spielt und entsprechende Frisuren und Kleidung trägt, erschien auch mir bizarr – und ich verteidige das immer noch nicht. Aber: Unterdessen habe ich ein paar Hintergründe gelernt, mit denen ich es zumindest einordnen kann. Etwa dass «Kulturelle Aneignung» nicht von einem künstlerischen Kulturbegriff ausgeht, sondern von einem gesellschaftlichen. Die Musik oder Malerei einer Gesellschaft sind in dieser Definition zwar ein Teil ihrer Kultur, aber eben auch Sprache, Wohnformen, Kleidung, Verhaltensweisen, u.s.w. «Aneignung» wiederum, das auf Deutsch auch die positive Bedeutung von etwas Erlerntem hat, ist eine eher unzureichende Übersetzung des englischen Wortes «Appropriation», in dem stärker auch eine Art Eroberung und Übernahme drinsteckt. Es wird deshalb unterschieden zwischen der ausbeuterisch motivierten «Cultural Appropriation», und der «Cultural Appreciation», der Wertschätzung, gegen die nichts spricht. Eine sinnvolle Unterscheidung, die in der Debatte zum Berner Beispiel nicht gut gelungen ist, weder den Konzertveranstaltern noch der diskutierenden Öffentlichkeit.
Gerade im Musikbusiness gab und gibt es zwar viel Ausbeutung, aber unter schlechten Verträgen mit Labels und Streamingdiensten leiden auch weisse Musikschaffende. Negativbeispiele von Künstlern, die in anderen musikalischen Traditionen aufgeschnappte Melodien und ganze Songs als ihre eigenen ausgeben, gibt es natürlich auch, und dafür soll man sich schämen und auch juristisch in die Verantwortung genommen werden. Ein solcher Urheberrechtsbruch war aber (nach meinem besten Wissen) bei der in Bern gestoppten Band nicht der Fall.
Die wertschätzende Aneignung anderer künstlerischer Ausdrucksformen hingegen ist der eigentliche Antrieb, der die Kunst weiterentwickelt. Goethe, Schiller und ihre deutsche Klassik, welche römisch-antike Formen idealisiert und übernommen haben. Elvis Presley, der seinen geliebten Rock’n’Roll auf der anderen Seite des Flusses bei den Afroamerikanern gelernt hat. Lo & Leduc, die über Latino-Beats rappen. Afro-Bands die mit Rockinstrumenten und -Rhythmen spielen. Meister-Instrumentalist:innen aus Asien, die Bach spielen. Männliche Rocksänger die Maria Lauber vertonen… Ein Verbot würde hier das Ende eines weltverbindenden Austausches bedeuten.
Bleibt also die Frage, ob es im Berner Beispiel um die gesellschaftliche Kultur-Definition ging, also die Kleidung und Frisuren der Musiker. Hier gilt es laut Definition als problematisch, wenn man sich anhand «kultureller Merkmale» wie Kleidung und Haartracht lustig macht über eine bestimmte Gruppierung. Oder wenn ein «sakrales» Element zweckentfremdet wird. Ein verständliches Beispiel sind die Kopfschmücke der amerikanischen Ureinwohner, welche eine besondere Ehre und Würde signalisierten. Vielleicht würden wir verstehen, dass unsere «Indiänerli»-Kostüme die Überlebenden indigener Stämme stören, wenn wir Menschen anderer Kulturen mit Playmobil-Kruzifixen auf Partys antreffen würden? Vielleicht auch nicht. So ist jedenfalls der Aufruf zur Rücksichtnahme auch in Bezug auf Rastas begründet. Und warum nicht mal darüber nachdenken? Es muss ja nicht auf ein Verbot hinauslaufen. Auch andere Anliegen der sogenannten Woke-Bewegung scheinen mir an sich der Debatte würdig. Woke heisst aufgewacht. Ich persönlich finde die grundlegenden Ideen gut: Gleichberechtigung, Rücksichtnahme, die gemeinsame Überwindung von systemischer Ungerechtigkeit. Was spricht dagegen, dass alle Menschen gleichberechtigt sein sollen und sich so kleiden und bewegen und lieben dürfen, wie sie wollen? Was spricht dagegen, uns rassistische Normen und Strukturen in unserem Alltag bewusst zu machen und sie durch dieses Bewusstsein nach und nach aufzulösen?
Dagegen spricht leider allzu oft, dass nicht diese positiven Ziele verhandelt werden, sondern Extremforderungen, die kaum eine breite Basis haben: Die weisse Reggae-Band darf nicht spielen. Geschlecht ist eine Erfindung, wer noch in den Kategorien Mann / Frau denkt ist zurückgeblieben. «Gut» ist, wer sich die Überzeugungen der «neuen Aufklärung» zu eigen macht, «böse» ist, wer das nicht tut. Und mit der sogenannten «Cancel-Culture», in der Andersdenkenden die Öffentlichkeit genommen werden soll, ist man gefährlich nahe an einer Form von Zensur, die in einer Gesellschaft mit Meinungsfreiheit nicht annehmbar ist. Mit Schuldzuweisungen ist nichts gewonnen. Konstruktiv wäre ein stetes Bewusstseinswachstum, das dann auch unser Handeln prägt. Wer lässt sich schon auf eine Idee ein, die ihn bereits als «Täter» identifiziert? Veränderung gelingt, wenn wir Menschen für ein Ideal gewinnen, nicht beim Kampf gegen Andersdenkende.
Aber wir müssen ja nicht das Kind mit dem Bad ausschütten, die Idee mit der Extremposition: Ich hoffe sehr, dass der Schaden durch diese ungeeignete Diskussionsgrundlage des Berner Beispiels den eigentlich fortschrittlichen Themen nicht allzu sehr schadet.
Apropos «Cancel Culture». Pädagogische Kurzsichtigkeit bei gesellschaftspolitischen Anliegen kennen wir ja nicht nur in der Woke-Bewegung: Auch konservativ-idealistische Gruppierungen in unserem Land, erlassen lieber Gesetze gegen kulturelle Lebensweisen von Zugewanderten, als daran zu glauben, dass die freiheitlichen Werte unserer Gesellschaft sie ohne Verbote überzeugen könnten.