Wir erleben eine Zeit voller Debatten, die sich zwar an den Pandemie-Themen festmachen, aber eigentlich auch Debatten über ganz grundlegende Werte sind. Und schönerweise haben wir bestimmt alle unsere nachdenklichen Momente, in denen uns bewusst wird, dass wir gerade etwas lernen. Das fängt schon im Gespräch an: Wir wünschen uns, dass man richtig zuhört und uns ernst nimmt, dass Diskussionen sachlich bleiben. Und deshalb ist klar, dass wir auch sachlich bleiben, allen anderen zuhören und sie ernst nehmen. Und es geht noch weiter.

Viele Menschen beklagen sich über Ungleichbehandlung, Zweiklassengesellschaft, Diskriminierung. Wir wissen, es gibt viele Gründe, warum jemand zum Beispiel ohne Maske im Laden oder im ÖV unterwegs ist, freiwillige und unfreiwillige. Wir erwarten zu Recht, mit unseren individuellen Gründen gehört zu werden. Böse Blick ernten aber alle Unmaskierten, der Verdacht, man gehöre zu den Verschwörungsgläubigen liegt immer in der Luft. Das sind sich viele von uns nicht gewohnt: Aufzufallen und mit Blicken beurteilt zu werden, auch vorverurteilt zu werden, vielleicht sogar vom Personal oder der Polizei überprüft zu werden. Andere Menschen in der Schweiz sind sich das durchaus gewohnt: Menschen mit dunkler Hautfarbe etwa, egal ob sie hier geboren und aufgewachsen sind oder nicht. Oder Menschen, denen die wirtschaftlichen Mittel (und die Lebensgeschichte) fehlen, sich so zu kleiden und herauszuputzen, dass sie in der Masse unsichtbar werden. Es gibt viele Beispiele von Bevölkerungsgruppen, die sich diese urteilenden Blicke gewohnt sind, und es liegt selten an einer freiwilligen Entscheidung zur „Rebellion“. In sie alle können wir uns nun hineinversetzen, unsere Vorurteile einmal mehr in Frage stellen, jetzt, da uns das auch mal passiert ist.

Viele Menschen führen nun das grosse und schöne Argument der Solidarität mit den Schwächeren und direkt Betroffenen auf ihren Fahnen. Wir schützen jene, die dem Virus schlechter geschützt gegenüberstehen, wir schützen unser Gesundheitspersonal vor der Überlastung. Solidarität ist das geflügelte Wort der Stunde, und damit bricht eine neue Ära an, in der das Gebot der Solidarität immer dann gilt, wenn es um gesundheitsbedrohliche Situationen geht: Wir werden bereit faire Preise zu bezahlen für unsere Nahrungsmittel, für Kleidung, für Elektronik, für Dienstleistungen, damit die Menschen, die da für uns arbeiten unter würdigen und gesunden Bedingungen arbeiten können. Wir stimmen selbstverständlich Ja zur Pflegeinitiative. Wir werden bereit unseren Platz an der Sonne vermehrt mit Menschen zu teilen, die sich den Weg dahin nicht kaufen können, Menschen, die unter erschwerten Bedingungen starten mussten und nun in unserem System nicht recht aufholen können.

Viele Menschen stellen sich aktuell voll hinter die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen, wie wir aus der Krise rauskommen können, und wir nehmen dafür auch persönliche Konsequenzen in Kauf. So werden wir nun bereit für einige persönliche Einschränkungen, wenn uns von ebenso ausgewiesenen Expert*innen gezeigt wird, was es braucht, um unseren Lebensraum vor dem Kollaps zu retten.

Viele Menschen stören sich an der Ungleichbehandlung, die wir (allenfalls durch unsere Gesinnung in Gesundheitsfragen) im Moment erleben müssen, wenn unsere Regierung gewisse Entscheidungen trifft. Regierungen treffen laufend Entscheidungen, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen Ausschluss bedeuten, meist weil sie entweder die entsprechenden Aufenthaltspapiere nicht haben oder weil ihnen die nötigen finanziellen Mittel zur Teilnahme fehlen. Das stört uns ab jetzt auch! Dass sich grosse Bevölkerungsgruppen gar nicht leisten können, ihr Recht einzufordern, weil die Rekurskosten oder Prozesskosten zu hoch sind etwa. Dass Menschen hier geboren und aufgewachsen sind, aber nicht am demokratischen Prozess und am gesellschaftlichen Leben teilhaben dürfen. Das könnte ich sein, merken wir, und es ist bei niemanden akzeptabel.  

Krise als Chance, heisst es immer wieder. Schön, dass wir sie nutzen!