Man muss ja allerhand entscheiden. Auch allerhand, bei dem man sich nicht persönlich dafür entschieden hat, es entscheiden zu müssen. Manches ist banal, anderes ist tiefgreifend. Was man morgens anzieht. Ob man die Mails schon vor dem Frühstück liest. Ob man seinen Tageslaun an den Mitmenschen auslässt. Wem man eine zweite Chance gibt. Ob man Musik hört auf dem Arbeitsweg. Ob man das Kalbsgeschnetzelte bestellt beim Mittagessen, obwohl wieder keine Angabe dabeisteht, woher es kommt. Ob man nach so einem Mittagessen den Kälbern auf der Wiese in die Augen schaut. Ob man die privaten SMS schon in der Arbeitszeit beantwortet. Ob man die Swiss-Covid-App auf dem Telefon installiert. Ob man sich freiwillig in der Quarantäne meldet. Ob man die Etiketten auf den Nahrungsmitteln liest, bevor man einkauft. Ob man die Nachrichten hören oder lesen oder schauen oder ignorieren will.

Ob man an der Abstimmung teilnehmen wird. Und falls ja: Ob man glaubt, dass Kampfjets irgendeine real existierende Gefahr abwenden können. Ob man einfach auch in einem Land sein will, dass solche Jets hat, Punkt. Ob man eher den Kantonsbeamten oder eher den Bundesbeamten die Entscheidung zutraut, welche Wölfe und Luchse abgeschossen werden sollen. Ob einem vor allem kümmert, welche schönen Konzern-Gewinne in der Schweiz zumindest ein bisschen versteuert werden. Oder ob einem mehr kümmert, was zu Gunsten dieser Gewinne in anderen Weltregionen angerichtet wird. Ob Väter auch dabei sein dürfen, wenn ihre Babys die ersten Wochen ausserhalb des Mutterleibes verbringen? Oder ob man die Arbeitgeber davor schützen muss, einen Beitrag zu leisten zur sozialen Gesundheit jener Gesellschaft, der sie ihre Produkte verkaufen und aus der sie ihre Arbeitnehmer buchen? Ob man sie nun doch annehmen soll, die x-te Version der Abschottungs-Begrenzungs-HelvetiaFirst-Alleingang-Im-Notfall-essen-wir-Härdöpfel-mit-Aromat-Initiative? Oder ob man einmal mehr dann doch zum Schluss kommt, dass man nicht nur die günstigen Produkte aus der ganzen Welt konsumieren kann, ohne die Welt auch ein bisschen mit den Menschen zu teilen, die diese Aktions-Ware geerntet und fabriziert haben. Viele schwierige Entscheidungen!

Auch diese: Ob man jetzt aufhören will zu lesen, weil der Kolumnist manipulative Suggestivfragen stellt. So Schlechtes-Gewissen-Provokationen, von einem, der nämlich zugeben müsste, dass er das Kalbsgeschnetzelte manchmal auch bestellt am Mittag. Und dann den hübschen Kuhblicken ausweicht nach dem Essen. So ein inkonsequenter Moralapostel.

Was ich ziemlich gut finde: Dass man einiges nicht entscheiden muss, weil man es nicht entscheiden kann. Zum Beispiel, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Oder ob Frutigen schöner ist als Adelboden. Ob Joni Mitchell besser ist als Bob Dylan. Ob es irgendwo wenigstens einen tadellosen, konsequenten Moralapostel gibt. Ob jede Massnahme gerechtfertigt ist, die wegen der Corona-Pandemie ergriffen wurde. Ob Bill Gates eher ein Krisenprofiteur oder ein ernsthaft besorgter Menschenfreund ist. Ob die Wirtschaft oder die Generation der über 65-jährigen wichtiger sind. Ob es einer geimpften Menschheit insgesamt besser geht. Ob Krankheiten einen höheren Sinn haben.

Bei den Volksabstimmungen erwarte ich eine Entscheidung von mir, da ist meine Meinung gefragt und vielleicht macht sie einen Unterschied. Die grossen Fragen zur Pandemie kann niemand entscheiden. Denen kann man sich nur annähern. Was ich problemlos entscheiden kann: Mich als freier Mensch zu fühlen, als eigenständig denkender, obwohl ich im ÖV die Maske trage. Obwohl ich die widersprüchlichen Informationen zu Sterblichkeitsraten noch nicht abschliessend durchschaut habe. Ich kann den skeptischen Zweifler*innen zuhören und ihre Perspektive verstehen. Ich kann den warnenden Expert*innen zuhören und ihre Perspektive verstehen. Und dann kann ich mich -während ich über all das nachdenke- an die allgemeinen Verhaltensregeln halten, ohne damit alles zu bejahen, sondern schlicht, weil ich nicht als wandelnde Provokation durch den Tag spazieren muss.