Kürzlich auf dem Bus von unserem Quartier zum Agglo-Bahnhof. Ein Junge, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, setzt sich vor mich, mit einem gleichaltrigen Mädchen, aber telefonierend. Er hat einen wilden, unkonzentrierten Blick aus glasigen Augen und flucht übel vor sich hin, das Mädchen beachtet ihn nicht. Er ist damit beschäftigt, pausenlos jemanden zu beleidigen. Gesittet übersetzt kann man seine Tirade so zusammenfassen: Wer auch immer da am Telefon ist, muss gar nicht meinen, denn mit ihm (also dem Sprecher) kann man so nicht umgehen, und sollte sich nicht schleunigst was ändern, muss sich das Gegenüber auf einiges gefasst machen: Ein Schwall gewalttätiger Drohungen wie aus einem Gangsterfilm im amerikanischen HipHop-Milieu schallt durch den Bus. Erst als wir am Bahnhof aussteigen, kommt mir der Gedanke, dass er gar nicht telefoniert, sondern Raps übt zu einer Musik, die auf dem Telefon läuft. Das wäre immerhin etwas beruhigend.

Ich gehe hinter ihm und seiner Freundin oder Kollegin auf das Perron, nun geht es bei ihm um die Wahl der Waffen und die Varianten der Foltermöglichkeiten, er wirft seinen Kopf umher, wie jemand, der permanent angepöbelt wird und sich vor Schlägen ducken muss. Gleichzeitig hat er in seine knielangen Shorts einen breitbeinigen “bouncenden” Gang drauf, als ob er seiner Affenbande signalisieren wollte, dass er nach wie vor den Status des Silberrückens beansprucht. Ich muss etwas schmunzeln. Aber es bleibt ein freudloses Lachen, denn als nächstes stelle ich mir vor, ich hätte einen Sohn, der sich so aufführt. Oder meine Tochter würde ihn in ungefähr zwölf Jahren als ihren Boyfriend nachhause bringen.

Wie oft hört man sich als erwachsene Person sagen: Die heutige Jugend weiss nicht mehr dass, versteht nicht mehr dass, usw. Und dann fällt einem ein, dass es nichts gibt, was sie nicht mehr wissen. Sie haben es nie gewusst. Wir wissen es: Wie anders es mal war und was seither passiert ist. Das relativiert unsere Sicht auf die Gegenwart. Für unsere Kinder ist es eine pure Gegenwart, in der unser Neues bereits alt ist, und unser zurückgelegter Weg bereits eine Geschichte, die sie nicht zwingend interessiert.

Es gibt kaum etwas über die “verdorbene Jugend” zu sagen, mit dem wir uns nicht auch in einem gewissen Mass selbst belasten. Junge Menschen auf der Suche nach ihrer Identität erfinden sich ja nicht selbst, sie positionieren sich gegenüber der Welt, die es bereits gibt. Jugendliche adaptieren, öfters halt in übertriebener Weise, Rollenmodelle, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden von den vorangehenden Generationen. Von uns. Die „heutige Jugend”, wie wir sie oft etwas despektierlich nennen, ist in vielerlei Hinsicht schlicht eine pure Version dessen, was wir aufgebaut und zugelassen haben. Pur, weil ohne relativierendes Bewusstsein dafür, woher es kommt.

Unser konkreter Einfluss auf diese Welt, die unsere Kinder kennenlernen, ist natürlich oft beängstigend klein. Ab einem bestimmten Alter können Eltern nicht mehr entscheiden, welchen Einflüssen die Kinder ausgesetzt werden. Auch ein weisser Mittelstandbube aus der Agglo Bolligen kann sich dann mit dem Umgangston von US-Gangstern identifizieren. Wir können bestenfalls noch Reaktionen konstruktiv begleiten. Was ich mir immer wieder bewusst zu machen versuche ist weniger das Mass meiner Mitschuld, vielmehr das Mass der jugendlichen Unschuld. Was auch immer die Generation nach uns “verloren” hat, “nicht mehr weiss”, der Verlust gehört eigentlich nicht auf ihre Rechnung.

Bezahlen müssen sie trotzdem. Oft überkommt mich die beklemmende Gewissheit, dass die Frage nach veränderten zwischenmenschlichen Umgangsformen nicht die brennendste sein wird, die mir meine Tochter eines Tages stellen wird. Jene nach der zunehmend fragilen Gesundheit unseres Lebensraumes, wird sie wohl mehr interessieren. Die alleinige Verantwortung muss ich nicht übernehmen. Aber die Frage, was ich konkret dazu beigetragen habe, werde ich mir gefallen lassen müssen. War ich ein Teil des Problems? Oder war ich ein Teil der Lösung? Ob sie mir meine Ausreden und Antworten glaubt, wird sie dann selbst entscheiden.