So dachte ich also, ich schreibe meine letzte Kolumne für den «Frutigländer». Sie war bereits auf der Redaktion, als die Meldung kam, dass sie «leider» nicht veröffentlicht werden könne, weil sie schönerweise nicht mehr zutreffe… Gute Nachrichten! Ich habe nun nicht viel umgeschrieben. Umso schöner, dass diese Gedanken sich nicht der Vergangenheit nachtrauern, sondern an die Gegenwart richten können.
Die Welt wird gerade von grösseren Ereignissen erschüttert. Aber mich hat die Nachricht vom Ende dieser Zeitung schon sehr erschüttert.
Ich habe es geschätzt, auch als Weggezogener wieder mitzubekommen, was zuhause im Tal läuft. Aber auch als Schreibender würde mir der «Frutigländer» fehlen: Alle paar Wochen hat mich diese Kolumne gezwungen, mit mir zu klären, ob ich etwas zu sagen habe, das nicht nur zum allgemeinen Lärm beiträgt. Und weil ich weiss, wie divers die Leser*innenschaft dafür ist, war ich auch herausgefordert, nach Wörtern zu suchen, die hoffentlich nicht nur von meinem Kulturmilieu verstanden werden. Das ist wichtig, weil es eine «richtige» Zeitung ist: Ein Forum, in dem nach Objektivität gesucht wird, in dem vielstimmig diskutiert und ausgelotet wird, nicht gehetzt und polemisiert. Natürlich äussern wir Schreibenden in einer Kolumne oder einem Kommentar auch mal klare Einzelmeinungen. Aber immer im Wissen darum, dass wir ja nur eine Stimme unter vielen sind, die im «Frutigländer» zu Wort kommen. Und dass man uns im Dorf durchaus Bescheid gibt, wenn man es anders sieht. Wenn ich als Kolumnist etwas bereue, dann dass ich nicht öfter vor Ort auf der Strasse sein konnte, um Ihren Widerspruch zu hören. Vielleicht haben wir ja nun die Chance, da noch etwas nachzuholen.
In dieser Corona-Zeit habe ich von Berufs wegen viel über die bedrohte Kultur gesprochen. Darüber, dass Kultur, wenn es sie nicht mehr geben würde, auch jenen fehlen würde, die sie gar nicht aktiv konsumieren. Ich habe gern den Einstein-Vergleich benutzt: Wer versteht schon Einstein? Von seinen Erkenntnissen profitieren wir trotzdem alle, vom Smartphone über die Stromproduktion bis zum Bewusstsein dafür, dass auch die Möglichkeiten der Wissenschaft an Grenzen stossen, wo wieder eine Art von Glauben beginnt. Mit der Kultur ist es ähnlich: Die verschiedenen Kunstsparten loten das menschliche Bewusstsein aus. Mal intellektuell und anspruchsvoll wie ein modernes Tanzstück, dann wieder ganz zugänglich und emotional wie ein Volkslied. Die Sensibilität, die so entsteht, ist für die ganze Gesellschaft ansteckend, egal ob man das Stück gesehen oder das Lied gehört hat. Auch ein schlechter Schüler lebt in einer insgesamt gut gebildeten Gesellschaft besser.
Egal, ob man den «Frutigländer» abonniert hat oder nicht, er leistet seinen Beitrag. Während die grossen Zeitungen (mehr oder weniger gezwungenermassen) auf zentralisierte Redaktionen und weniger lokale Berichterstattung setzen, sind die überlebenden Regionalzeitungen umso wichtiger. Der Graben zwischen den Zentren und den Randregionen ist schon so tief. Die Frustration in den Randregionen darüber, immer wieder durchs Netz der nationalen Aufmerksamkeit zu fallen, ist ungesund für unser Land und die Gesellschaft. Der «Frutigländer» gibt dem Tal eine Stimme, einen Ort, an dem die lokal wichtigen Dinge auch ernst genommen werden.
Ich habe in den vergangenen Jahren oft gesagt: Wenn es diese Zeitung nicht geben würde, müsste man sie erfinden. Es braucht mehr davon. Nun ist die Erleichterung gross, dass es doch noch eine Chance gibt.
Zum Abschluss der vermeintlichen Abschiedskolumne hätte ich uns gewünscht, dass wir Frutigländer bleiben, als ob es den «Frutigländer» weiterhin geben würde: Im Bewusstsein, dass auch die kleine Welt eines Bergtales die wichtige Welt ist. Im Bewusstsein, dass viele verschiedene Stimmen nicht Streit bedeuten müssen, sondern Austausch, Bereicherung, Horizonterweiterung. Diesen Wunsch kann auch so stehen lassen.