Vor ein paar Wochen im Zug von Interlaken nach Bern. Ich war auf dem Heimweg aus dem Studio von Radio BeO. Eigentlich hätte das Interview an der Thuner Agri Messe stattgefunden, aber die war tags zuvor geschlossen worden, wegen Corona. Ich stieg in den Zug ein und suchte einen freien Platz. Oh, war ich eben weiter gegangen, um nicht in der Nähe der beiden Chinesen sitzen zu müssen? Ja, war ich.
Ehrlicherweise: Ich kann Chinesen optisch nicht von Japanern oder Koreanern unterscheiden. Mir fehlen die Begegnungen, dank denen ich die Merkmale erkennen könnte. Möglicherweise bin ich Indonesiern ausgewichen, aus der Befürchtung, sie könnten Chinesen sein, und das Coronavirus verbreiten. Diese Sorge war vermutlich unbegründet. Das wusste ich, und viele Stunden Nachrichten zum Thema später, weiss ich es nun erst recht. Ich habe mich aber trotzdem seither nie mehr im Zug in die Nähe von Asiaten gesetzt. (Ich meide auch die Menschen mit glasigen Augen, roten Nasen oder allgemein etwas ungesundem Teint. Und zucke zusammen, wenn jemand im Bus hustet.) Nun muss ich nicht allzu streng mit mir sein: Ich beschimpfe diese Leute nicht, werfe niemanden aus dem Zug und zeige nicht mal mit dem Finger.
Aber ich kann immerhin ehrlich zu mir sein: Auch ich habe das Monster in mir.
Stellen wir uns kurz eine Welt vor ohne Zugang zu guten Informationen: Eine schwer bis tödlich verlaufende neue Krankheit macht die Runde. Nehmen wir an, die Verbreitung der Krankheit hätte in China begonnen. Aber das wüssten wir nicht. Wir wüssten nur, dass sie bei uns zuerst im Zusammenhang mit Asiaten aufgetreten ist. Und da wir alle genauso unerfahren wären darin, Japanerinnen von Chinesinnen zu unterscheiden, würde sich bald die Meinung festigen, Asiaten machen uns krank. Wie lange würde es dauern, bis wir sie aus den Städten vertreiben, im Keller in Quarantäne sperren, ihre Häuser anzünden würden? Erinnern Sie sich auch an den Geschichtsunterricht, an den mittelalterlichen Vorwurf, die Pest komme von den Juden? An die Folgen solcher Unterstellungen bis in die heutige Zeit hinein? Wir können Monster sein.
So ist es nun nicht. Ich habe den Zugang zu den Informationen. Ich weiss, wie eine Grippe sich verbreitet und dass sie sich weder für die Hautfarbe noch für die Religion der Menschen interessiert. Aber dieses irrationale Element habe ich in mir: Ich setze mich nicht zu den Asiaten. Es ein Impuls, der nicht aus Vernunft entsteht. Ich bin nicht der einzige irrationale Mensch. Es gab keinen vernünftigen Grund, in den letzten Wochen in der Stadt Bern nicht mehr italienisch essen zu gehen. Es ist trotzdem passiert. Es ist im grossen Bild nicht so schlimm. Aber Corona führt vor, dass wir zu ziemlich irrationalen Impulsen fähig sind, auch in unserer hochinformierten und gebildeten Zeit.
Ich verurteile mich nicht für meine irrationalen Impulse. Ich kenne sie schon lange. Ohne mich dafür zu entscheiden, habe ich etwa Vorurteile über Menschen, die abweichen von unserer Schweizer Norm, sei es rein äusserlich oder in ihrer Art aufzutreten. Mein Vorurteil ist das eine. Wenn ich mich für meine irrationalen Impulse beurteilen müsste, bin ich das Monster. Aber – um in der Gerichtssprache zu bleiben – ich glaube erst mein Urteil ist relevant: Dass ich die Verhandlung führe in mir, dass ich Fakten zulasse bei der Verhandlung, dass mein Urteil und mein Handeln nicht vom Vorurteil bestimmt werden, sondern vom Ergebnis dieses (Denk-)Prozesses.
Ich vermute, wir werden einige Gelegenheiten haben in den seltsamen Wochen, die jetzt kommen, unseren Impulsen zu begegnen. Ich wünsche uns viel Behutsamkeit, Solidarität und Liebe. Und den standfesten Glauben daran, die herzliche Dankbarkeit dafür, dass die anderen ihre Monster auch im Zaum halten.
Zu viel von sich erwarten muss man ja nicht. Ich habe die Indonesier (oder doch Chinesen?) im Vorbeigehen freundlich angelächelt. Freundlichkeit ist immer ein guter Anfang.