In letzter Zeit, wenn mir in der Politik oder den sozialen Medien wüste Meinungs-Streitereien und gegenseitige Anschuldigungen begegnet sind, habe ich wieder vermehrt an Pat McCarthy gedacht.

Im Herbst 1998 habe ich meine erste Reise gemacht: Ich fuhr von London aus mit dem Zug durch Grossbritannien, mit dem Schiff nach Irland und dann per Autostopp rund um die südliche Hälfte der Insel. Ich war 19 und ziemlich grün hinter den Ohren. Mein Aussehen (wilde lange Haare, Bart, Hanfjacke, Jeans und ausgelatschte Lederschuhe) machten mich zuhause erkennbar als typischen alternativen Mittelschüler, aber im irischen Kontext gab es das nicht, ich wirkte wie ein Landstreicher. Für die meisten Pubs war ich zu jung; man darf ab 18 trinken, aber erst mit 21 in die Pubs – trinken will geübt sein. Auch in anderen Lokalen war ich unerwünscht. Wohlfrisierte Jugendliche in schwarzen Blazern gingen neben mir in die Clubs rein, aber vor mir streckte der Türsteher den Arm aus und sagte: «Sorry, full house.» Ich schloss Bekanntschaft mit den Strassenkünstlern, den Reisenden in den Hostels und wanderte viel alleine durch die Strassen und die Landschaft.

So habe ich in Killarney Pat McCarthy kennengelernt. In Irland regnet es meist mehrmals am Tag, meine Hanfjacke war seit einem Sturm am Anfang der Reise nie mehr richtig trocken geworden und müffelte, und ich lungerte mit meiner Gitarre auf dem Rücken im Stadtpark herum auf der Suche nach einer öffentlichen Toilette. Der gepflegte ältere Herr, der mir den Weg zeigte, liess mich auch unter seinem Schirm mitgehen. Ein Gespräch begann, und damit meine kurze, intensive Freundschaft mit Pat. Er hatte ein paar Tage frei und bot mir an, mich zu einigen der Sehenswürdigkeiten zu fahren, die ich zu Fuss nicht hätte erreicht hätte. Nur etwas machte mich stutzig: Er sah aus wie 60, behauptete aber erst gut 40 zu sein. Auf unseren Spaziergängen verhandelten wir alles, die Liebe, Politik, Kulturen, Gott und Spiritualität, das Leben und den Tod (mein Vater war im Frühling 1998 gestorben). Ein Austausch von zwei Menschen mit grossem Altersunterschied, aber ohne jedes Gefälle. Pat sprach mich an wie einen ebenbürtigen Menschen, der halt aus einer anderen Altersperspektive die Welt betrachtete. Meine Sicht war geprägt von jugendlicher Dringlichkeit, ich suchte absolute Wahrheit, absolute Authentizität, absolute Liebe. Er verstand das, aber erstaunte mich immer wieder damit, dass er scheinbar so im Frieden war mit den Unzulänglichkeiten des Daseins. Trotzdem gab er mir nie das Gefühl, ich habe halt noch keine Ahnung. Das kannte ich nicht von den Erwachsenen.

Am Ende fuhr er mich zu meinem nächsten Ziel, einem Buddhist Retreat Center auf einer Klippe am Westende der Insel. Beim Abschied versuchte er mich zu küssen. Das kam sehr unerwartet, ich wehrte ihn freundlich ab, er akzeptierte das, ich umarmte ihn noch einmal und winkte, als er losfuhr. Ich war etwas verwirrt, aber böse war ich ihm nicht. Das Frutigtal der 90er Jahre hatte mir keine Gelegenheit gegeben, offen homosexuellen Menschen zu begegnen, ich hatte keine Referenzen gehabt und nichts geahnt. Aber ich konnte nachvollziehen, dass er meine Offenheit missverstanden hatte und abgesehen von diesem harmlosen Abschiedskuss hatte er sich korrekt verhalten.

In meiner Erinnerung ist Pat McCarthy in erster Linie einer der ersten Menschen, die mich ganz ernstgenommen haben. Und er hat mir die vielleicht nützlichste Stütze meiner eigenen Lebensphilosophie mitgegeben. Einmal habe ich ihn nach seiner erstaunlichen Entspanntheit gegenüber dem Zwiespalt in so vielen menschlichen und philosophischen Dingen gefragt:

I don’t give perfection, and I don’t expect perfection. Ich habe keine Perfektion anzubieten, und ich erwarte auch keine Perfektion.

Mühe geben kann man sich natürlich trotzdem. Aber die Demut in diesem Lebensmotto, wünsche ich mir oft von den selbstgerechten Streitparteien in unseren politischen und gesellschaftlichen Debatten.