Kürzlich wurde ich in einem Interview gebeten, Stellung zu nehmen zu einer These: Dass die Menschen, die auf dem Land leben der Natur näher seien als Menschen, die in der Stadt leben. Die Frage stellte sich im grösseren Zusammenhang mit den vergangenen Wahlen. Es wurde zwar auch auf dem Land mehr Grün gewählt, aber es zeigt sich doch immer noch ein deutlicher Trend, dass in den Städten tendenziell «umweltfreundlicher» gewählt und abgestimmt wird als auf dem Land. Warum ist das so? Ist es eine Sehnsucht nach mehr Natur, die die Menschen in der Stadt «grün» macht? Ist es das urbane «Bildungsmilieu», das angeblich sensibler sein soll für Umweltschutz? Oder haben die Menschen auf dem Land einfach eine weniger idealisierte Idee von der Natur, weil sie ihnen nicht primär Naherholungsgebiet ist, sondern Nutzfläche?

Ich weiss es nicht.

Und eigentlich interessiert mich sowieso ein anderer Aspekt dieser Frage nach der Nähe zur Natur fast mehr. Und der lässt sich in Frutigen sehr gut beobachten. Frutigen verändert sich. Die riesige leere Fläche um den Militärflugplatz meiner Kindheit etwa. Damals war der Blick talauswärts offen bis zum Niederhorn mit seiner blinkenden Antenne. Heute ist der Flugplatz zwar eine zunehmend dichtere Gewerbezone, aber der Horizont wird bleiben. Erneuerungen in der Stadt verändern unmittelbar die Kulisse, in der sich das Leben abspielt. Erneuerung im Tal kann das kaum. Egal ob die Häuser und Strassen 5, 50 oder 500 Jahre alt sind, die Landschaft wird sie immer überragen. Natürlich schmerzen manche ästhetischen Entscheidungen an neuen Bauten und Renovationen.  Vertraute Bäume fehlen, Spielorte meiner Kindheit haben durch Eingriffe in der Umgebung ihren Zauber verloren. Natürlich trauere ich den verlorenen Flächen und Wiesen nach. Aber dann hebt sich der Blick an den Horizont, das Niederhorn, die Felsen des Gerihorns, die Niesenkette, Altels und Balmhorn. Kein menschlicher Eingriff, und sei er noch so deplatziert, übertönt hier die robuste Gewissheit, dass wir Menschen und unsere Spuren vorübergehend sind in dieser Landschaft.

Macht das etwas mit dem Bewusstsein der Menschen, die hier leben und aufwachsen? Was hat das mit mir gemacht? Mir hat es gefehlt, als ich weggezogen bin.

In meinen ersten Jahren in der Stadt bin ich oft erschrocken, wenn ich plötzlich zwischen den Häusern ein Stück Himmel gesehen habe, oder eine Lichtstimmung: Ich hatte gerade seit Tagen nie mehr das Bewusstsein gehabt hatte, ein natürliches Wesen auf einem natürlichen Planeten zu sein. Die von uns Menschen geschaffene Alltags-Realität übertönt und verdeckt so oft eine viel grössere, ewige Realität: Wir alle und alles um uns herum sind aus demselben Staub entstanden. Unser Planet ist ein riesiger Organismus, in dem alles zusammenspielt. Nichts in unserer Existenz ist wirklich unabhängig von allem anderen. Wir wissen das aus der Physik, aber auch aus den offensichtlichen ökologischen Kreisläufen: Mehr Füchse, weniger Hasen; weniger Hasen, weniger Füchse; weniger Füchse, mehr Hasen und so weiter.

Nähe zur Natur? Diese Frage zeigt gerade das Problem unserer Wahrnehmung: Wir sind ja Natur.

Wenn mir dieses Bewusstsein für ein grosses Ganzes fehlt, für mich als Teil darin, der auf seinem kleinen Fleck Erde einen Unterschied macht, dann fühle ich mich nicht nur weniger verbunden mit der Natur, ich fühle mich auch weniger verbunden mit mir selbst und meinen Mitmenschen.

Und was meiner Wahrnehmung für das grosse Ganze im Weg steht, hängt nicht vom Lebensort ab: Häuserfassaden, Bildschirme, Tunnelblick und Zeitnot gibt es in der Stadt wie auf dem Land. Und auf der Stadt wie auf dem Land, kann ich in einen ewigen Himmel oder in einen ewigen Fluss blicken, der mich demütig macht in meiner Kurzlebigkeit. Und überall kann ich anderen Menschen und Lebewesen in die Augen blicken und erkennen, dass ich mir diesen wertvollen Lebensraum teile, dass dieses Teilen schöner und sinnvoller ist, wenn wir freundlich und rücksichtsvoll miteinander und mit unseren Lebensgrundlagen umgehen.