«Das macht me nid.» Sowas höre ich mich immer wieder mal sagen, seit ich Vater bin, und manchmal halte ich dann kurz inne und frage mich, ob es stimmt. Tut «man» das wirklich nicht, oder passt es nur mir nicht, wenn meine Tochter es tut? Bei ganz vielen Momenten, in denen dieser Satz ausgesprochen wird, wären wir uns wohl alle rasch einig: «Das tut man nicht». Das Essen verschwenden. Andere Kinder beissen. Aber unsere Gesellschaft wird immer diverser, und damit verwässert die Einigkeit darüber, was «man» tut und was nicht. Und das meine ich nicht in Bezug auf neue Nachbarn aus fremden Kulturen, sondern auch innerschweizerisch, weil sich die Zeiten ändern: Grüsst man sich im Dorf auf der Strasse, auch wenn man sich nicht persönlich kennt? Kauft man spottbillige Kleider aus Asien?  Siezt man Erwachsene? Zieht man mit über 35 Jahren jugendliche Kleider an? Isst man Fleisch?

Diese letzte Frage ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich das kollektive Bewusstsein der Gesellschaft verändert. Zwischen 19 und 29 war ich Vegetarier. Als ich damit anfing, 1997, brauchte ich oft nur zu erwähnen, ich esse kein Fleisch mehr, und schon gab es Streit. Ohne dass ich irgendjemanden verurteilt hätte, der Fleisch ass. Viele fühlten sich angegriffen durch die schlichte Information, dass ich mich gegen etwas entschieden hatte, das sie tun. Wenn ich in den ersten Jahren auswärts essen ging, war es oft schwierig, auf den Speisekarten eine Alternative zu den Fleischmenus zu finden. Ich habe Jahre mit Gemüsetellern und Teigwaren Napoli verbracht. Heute findet sich kaum mehr ein Restaurant ohne vegetarisches Tagesmenu. Streit darüber gibt es auch kaum mehr. «Man» hat in den Alltag eingebaut, dass es Vegis, Getreide-Allergien und Laktoseintoleranz gibt.

Das kollektive Bewusstsein ist entscheidend für die Einigkeit darüber, was «man» tun und was nicht. Vielleicht dürfen wir uns öfters erinnern, wie jung vieles noch ist, was uns bereits selbstverständlich erscheint. Vor nur 20 Jahren rief «man» niemanden zur Mittags- oder Znacht-Zeit an, denn beim Essen störte «man» nicht. Vor 52 Jahren durften Frauen hier noch nicht abstimmen. Bis vor etwa 65 Jahren war es in Ordnung, Schulkinder mit der Rute zu züchtigen. Das Wissen darüber, wie schädlich das ist, kam damals gerade erst auf. Auch Eltern und Lehrpersonen ohne gewaltsame Ader liessen sich überzeugen, Züchtigung sei gut. Vor 100 Jahren war die Vorstellung, dass wir ein Unterbewusstsein haben, noch verstörend für die Allgemeinheit, heute sind viele Erkenntnisse aus der Psychologie im Volksmund angekommen: «Unterbewusst wollte ich das wohl.»

Was ist heute bei uns für alle selbstverständlich? Die Generationen haben verschiedene Perspektiven, aber auch kulturell gibt es Unterschiede, zwischen Stadt und Land, zwischen Westeuropa und Nordafrika oder dem Nahen Osten. Was kann «man» selbstverständlich erwarten, von den Menschen, mit denen «man» die Gemeinschaft teilt?

Manchmal frage ich mich, was man von mir erwarten könnte: Wäre ich 85 Jahre alt und plötzlich wäre es üblich, dass man sich auf der Strasse vor die Füsse spuckt: Unvorstellbar, dass ich das jemals nicht ekelhaft finden würde. Wäre ich in einem fremden Land und mir würde vorgeschrieben, meine Tochter in den Keller zu sperren, wenn sie nicht gehorcht: Unvorstellbar, dass ich das jemals richtig finden würde.

Ein Vorschlag: Dass «man», also alle Beteiligten auf allen Seiten, sich bemühen um friedliches Zusammenleben und Nebeneinanderleben, das könnte selbstverständlich sein.