Immer nach den Kampfdiskussionen zu den Abstimmungen bleibt so ein mulmiges Gefühl. Fast überall in der westlichen Welt spricht man von zunehmender Polarisierung: Die Rechten, die Linken. Die Städter, die Hinterwäldler. Auch bei uns erlebt man kaum öffentliche politische Diskussion, in denen ernsthaft nachgefragt wird und man versucht einander gegenseitig zu verstehen. Das ist vielleicht das destruktivste Element unserer politischen Kultur: Die Meinung, die Anders-Stimmenden seien bestenfalls dumm und schlimmstenfalls böse.
Je länger ich über diese Umstände nachdenke, desto mehr scheint mir, dass am Grund dieser Polarisierung eine Frage des Menschenbildes steht. Bewusst überspitzt formuliertt: Die Linken glauben immer ans Gute im Menschen und lassen sich deshalb von den Bösen und Faulen ausnutzen, sie wollen allen helfen bis zur Selbstaufgabe und bauen die Aufgaben des Staates aus, bis die Menschen keine Eigenverantwortung mehr übernehmen (können). Die Rechten sehen in jeder Person ausserhalb des vertrauten Kreises einen potentiellen Feind, finden Randständige seien selber Schuld und man sollte sie sich selbst überlassen, wer zu schwach ist, stirbt halt, so ist es auch in der Natur; jeder soll für sich selber schauen, dann ist zu allen geschaut. Soweit die harten Klischees. Aber wenn ich bei «Linken» oder Rechten» nicht an eine gesichtslose Gruppe denke, sondern an konkrete Menschen, dann fallen mir nur Linke ein, die durchaus wissen, dass die sozialen Systeme auch ausgenutzt werden. Und es fallen mir nur Rechte ein, die in Bezug auf konkrete Notleidende sowohl anerkennen, dass die nicht einfach nur selbst schuld sind, sondern auch, dass es gut ist, ihnen vielleicht sogar mit Hilfe des Staates beizustehen.
Die klischiert linken oder rechten Menschen- und Weltbilder funktionieren nur als grobe Verallgemeinerungen, auf Einzelfälle passen sie fast nie. Nun kann man aber als Gemeinwesen nur beschränkt eine «Einzelfall»-Politik machen. Woran orientiert man sich also bei politischen Grundsatz-Entscheiden?
Ich denke dabei oft an meine Zeit als Lehrer an öfters mal schwierigen Oberstufenklassen. Ich hätte mit Strenge und grundsätzlichem Misstrauen meine Klassen diszipliniert führen können, meine Autorität durchsetzen und respektiert werden. Aber Disziplin ist kalt. Eine Klasse braucht zwar klare Grenzen und grundsätzliche Regeln, aber vor allem auch ein Klima des Zutrauens, der gegenseitigen Akzeptanz unter ganz verschiedenen Menschen. Raum für die Stärken der Einzelnen zum Wohl aller. Und einen konstruktiven Umgang mit den Schwächen: Ermutigung, an sich zu arbeiten, anstatt als ungenügend in die Ecke gestellt zu werden. Kann sein, dass ein asozialer Schüler sich nicht zu einem freundlicheren Mitmenschen entwickelt, egal wie viele Chancen man ihm gibt. Er wird es aber ganz bestimmt nicht tun, wenn man ihn abstempelt und ihm keine Entwicklung mehr zutraut. Kommt dazu: Eine Atmosphäre des Misstrauens färbt auch auf jene ab, die nichts mit Konflikten zu tun haben. Die prinzipielle Entscheidung zum Zutrauen ist deshalb nicht naiv, sie ist schlicht der einzige Weg, auf dem es ein vorwärts gibt – für die Betroffenen und für die Gemeinschaft. Und das macht für mich auch Sinn für die Gesellschaft an sich: Mit Ausgrenzung und strenger Kontrolle kann man vielleicht verhindern, dass man ausgenutzt wird. Aber jene, die man so ausgrenzt, werden keinen Grund haben ihrerseits Loyalität und Gemeinschaftssinn zu entwickeln.
Jaja, Gutmenschenzeugs, denken Sie jetzt vielleicht, ein typischer dummer Linker. Aber ich mache mir aber nicht vor, es gebe keine Egoisten, die unbekümmert anderen Menschen oder dem Gemeinwesen schaden. Ich weiss, dass es sie gibt, sie regen mich auf, ich bin dafür, sie in die Verantwortung zu nehmen. Aber wie könnte es für mich oder meine Umwelt gut sein, wenn ich stets voll von Misstrauen durch die Welt gehen würde? Das würde bedeuten, ein Gift zu verbreiten und es selbst jeden Tag schlucken zu müssen. Da bin ich lieber dumm.