Ich esse neben einer jungen Dame. Sie hat wild gelocktes braunes Haar, ein bezauberndes Lächeln und wunderschöne graugrüne Augen. Nun greift sie mit beiden Händen in den Teller, stopft sich laut mampfend Kartoffeln und Blumenkohl in den Mund, lässt einen Drittel davon wieder raustropfen über ihre Kleider. Sie schmiert sich die Essensspuren mit den Händen ins Gesicht und die Haare. Sie packt ein Stück Brot, reisst mit dem Mund den weichen Teil heraus und wirft den Rest hinter sich auf den Boden. Was sich noch im Teller befindet, verteilt sie auf dem Tisch, sie schmeisst den Teller runter und wischt sie mit ausgestreckten Armen über die Tischplatte bis die restlichen Kartoffeln dem Teller gefolgt sind. Ihr Stuhl ist umgeben von einem Schlachtfeld aus Gemüse und Brotresten. Als sie nach meinem Wasserglas greift, packe ich ihre Hand und sage laut: «So, jitz längt’s aber!»
Dann muss ich lachen.
Die junge Dame, unsere zehnmonatige Tochter, übt gerade selber essen. Der Pro Juventute-Elternbrief, der einem durch die ersten Jahre mit Kindern begleitet, beschreibt, wie wichtig die sinnliche Erfahrung mit Nahrungsmitteln ist in diesem Alter und dass es noch zu früh ist für Tischmanieren. Ich bin froh um diese Lektüre. Denn zu meinem Erstaunen, ist es oft gar nicht so einfach, gelassen zu reagieren. Wenn jemand Essen wegschmeisst, das stört mich. Und der Reflex, dass es mich stört, ist meist schneller als mein Bewusstsein, dass das für ein Kleinkind in Ordnung ist. Meine Tochter darf also ein bisschen Reflexkontrolle von mir erwarten. Das ist eine spannende Erkenntnis für mich, und ich habe gerade Gelegenheit, sie auch in einem ernsteren Thema anzuwenden.
Seit einigen Wochen lebt vorübergehend ein junger Flüchtling aus Somalia bei uns in der Gross-WG. Der Junge ist 17 Jahre alt, sehr freundlich im Umgang, er macht Faxen mit unseren Kindern und hilft im Haushalt mit, wenn man ihn darum bittet. Er hat einen wachen Humor und kann auch über sich selber lachen. Aber: Er hat Mühe aufzustehen. Beziehungsweise: Er steht oft einfach nicht auf, auch nicht, wenn man ihn bereits fünf Mal geweckt hat und er gesagt hat: Ja, ich stehe auf. Das wurde seiner vorherigen Gastfamilie zu mühsam. Wir waren vorgewarnt, und ich dachte, das sei für mich kein Problem.
Ein paar Wochen später gestehe ich: Es nervt mich sehr. Wenn jemand «Ja» sagt ohne sich daran zu halten, das wirkt respektlos und unanständig, das wusste ich doch auch mit 17. So meine reflexartige Reaktion, in der ich meinen an schweizerischen Normalverhältnissen geeichten Massstab ansetze. Aber: Als ich 17 war, hatte keine verfeindete Gruppe meinen Vater umgebracht und danach mich ins Visier genommen. Als ich 17 war, musste ich nicht durch die Sahara flüchten. Ich war nicht am Mittelmeer in ein Schiff gestiegen ohne Sicherheit lebendig irgendwo anzukommen. Ich war nicht ohne Sprachkenntnisse durch fremde Länder mit fremder Kultur gereist um schliesslich über ein bürokratisches System in einer Familie untergebracht worden, in der sich niemand auch nur annähernd vorstellen konnte, wie ich dorthin gekommen war und aus welchen Zuständen ich entkommen war. Ich brauchte keine Schlafmittel um überhaupt einschlafen zu können, keine psychologische Betreuung, um meine Erlebnisse zu verarbeiten und ich hatte keinen «Aufenthaltsstatus», in dem mir jederzeit mitgeteilt werden konnte, dass man mir meine Geschichte nicht glaubte und ich mich deshalb auf den Heimweg machen sollte, wo meine kranke Mutter und die Mörder meines Vaters auf mich warteten.
Natürlich könnte ich darauf antworten, dass sich bemühen muss, wer in einem anderen Land eine Chance erhalten will. Natürlich könnte ich in Zweifel ziehen, ob der Teil der Geschichte mit dem Mord am Vater stimmt. Aber das ändert nichts daran: Der Massstab, der in meiner Schweizer Normalität gilt, lässt sich nicht auf den Ausnahmezustand eines flüchtenden Menschen aus einer ganz anderen Kultur übertragen. Ein bisschen Reflexkontrolle kann ich von mir erwarten.