Eine meiner Kindheitserinnerungen ist, dass wir als Familie viel zusammen die Soap-Opera «Falcon Crest» schauten. Glück und Drama in den Beziehungen und Geschäften zweier eng verbandelter, aber konkurrenzierender Winzerfamilien in Kalifornien. Nicht selten wurde am Znachttisch noch besprochen, was wohl mit dieser oder jener Figur weiter passieren würde. Mir ist geblieben, dass einer der erwachsenen Darsteller in einer Folge zum ersten Mal Velo fuhr und es sehr schlecht konnte. Als Bub in Frutigen war das unvorstellbar. Irgendwann an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend, kam mir plötzlich der Gedanke: Eigentlich weiss ich mehr über die «Falcon Crest»-Familien als über einige unserer Nachbarn, und das ist doch irgendwie komisch.
Wenn ich Zeit dafür finde, lese ich ausführlich Zeitung. Sogar den Wirtschaftsteil. Über’s WEF und die Globalisierung. Und auch die Hintergrundreportage über ein Chorfestival in Weissrussland. Manchmal beschäftigen mich solche Nachrichten dann auch, und wenn ich beim Abendessen anfange irgendwas davon zu erzählen, überkommt mich mitten im Satz dasselbe Gefühl, das ich als Jugendlicher hatte mit den Fernsehserien: Was hat das mit mir zu tun?
In Grossbritannien wurde gerade ein Ministerium für Einsamkeit eingesetzt. Pro Woche schliessen dort 27 Pubs. Die Menschen bleiben zuhause und blicken durch Bildschirme in eine Welt, die sie ohne Anstrengungen ablenkt, vielleicht gerade deshalb, weil sie oft nichts mit ihrem Alltag zu tun hat. Nachbarschaft bedeutet nicht mehr Gemeinschaft. Einerseits Flucht in eine Welt, in der aus allem Entertainment gemacht wird, andererseits Einsamkeit.
Dann denke ich: Ich möchte mich wieder mehr mit der Welt beschäftigen, die für mich unmittelbar eine Rolle spielt, ich der ich unmittelbar eine Rolle spiele, wo ich auch einen Einfluss haben kann, eine Spur hinterlassen, mittragen und beitragen. Kurz: Mit der Welt, die mich etwas angeht. Ich finde nichts was gegen diesen Vorsatz spricht. Nur wird mir beim Weiterdenken bewusst, dass es damit nicht getan ist. Mein Leben ist jeden Tag unmittelbar begleitet von Produkten, die irgendwo weit weg in anderen Zeitzonen produziert wurden. Oft zu Produktionsbedingungen, die bei uns verboten wären. Wie viele Flachbildschirme, Handys und Autos würden wohl gekauft in der Schweiz, wenn alles in der Schweiz oder zu Schweizer Arbeitsbedingungen produziert würde? Wir wissen die Antwort: Wenige. Sie wären zu teuer. Wir sind ein Importland.
Und deshalb kann ich mich nicht rausreden. Ja, es ist in Ordnung mich ab und zu mit den verstörenden Nachrichten über Kinderarbeit in Kobaltminen im Kongo zu belasten. Denn diese Kinderhände graben nach einem Bauteil in meinem Smartphone. Ja, es ist in Ordnung mich mit den Gesundheitsproblemen von osteuropäischen Gastrabeitern auf vergifteten Feldern in Südeuropa zu befassen. Sie opfern ihre Gesundheit für Billiggemüse, das auch bei uns die Preise so drückt, dass wir es uns leisten können, nur zu kaufen, was schön genug aussieht. Ja, man kann von mir erwarten, dass ich mir die Geschichte eines afrikanischen Wirtschaftsflüchtlings anhöre, der sich zuhause nicht ausbeuten lassen will. Und dass wir ihn mit unserem Gesetz heimschicken werden, wenn wir irgendwie können, ändert nichts daran, dass seine Geschichte mich etwas angeht.
Freier Markt und Globalisierung sorgen für konsumentenfreundliche Angebote. Aber die Globalisierung hat einen Preis, der auf keinem Preisschild steht, der aber nicht immer einfach zu bezahlen ist: Den, dass fast die ganze Welt uns etwas angeht.