Kennen Sie diese Momente, wenn einem plötzlich bewusst wird, dass man ja ein natürliches Wesen ist? Das klingt vielleicht etwas seltsam, aber mich erstaunt das manchmal tatsächlich. Ich verbringe meine Tage in hochtechnisierten Gebäuden, mit Anschlüssen in den Wänden aus denen Strom und Signale kommen, von denen ich nur teilweise verstehe, wie sie dahin kommen, und wie die Technik dahinter funktioniert. Ich verbringe Stunden an Maschinen sitzend, oder mit einer kleinen Maschine in der Hand, welche ich technisch nicht mal ansatzweise verstehe, aber ohne die mein Alltag so weder vorstellbar noch bewältigbar wäre.
Ich laufe rum in Kleidern, die irgendwo auf fernen Kontinenten gewoben, gefärbt und genäht wurden, ein langer Weg bis ich sie in einem Laden in der Stadt kaufe. Im Laden drin ist der Stoff der Kleider wohl das natürlichste an der ganzen Einrichtung. Die Rolltreppen, die Kunststofffussböden, die blinkenden Werbebildschirme jedenfalls sind es nicht. Mit den gekauften Kleidern gehe ich zurück auf die Strasse: Da liegt kein Stein im Pflaster, wo die Natur ihn hin gespült hat, weder die Tramschienen, noch der Antrieb der Trams und Busse, noch die Autos hätte es vor 250 Jahren gegeben. Die Frisuren der Leute, ihre Outfits, ihre Kopfhörer, ihre Schminke, nichts davon hat sich die Natur direkt so ausgedacht. Alles um mich und an mir ist dermassen gestaltet und fabriziert, dass ich mich manchmal selbstverständlicher mit dieser künstlichen Welt identifiziere als mit meinem organischen, blutigen, fleischigen und schwitzenden Körper. Dann sehe ich einen Vogel, der auf einer Leitung landet, aus einem Himmel, der vor tausend Jahren ähnlich ausgesehen hätte. Sehe einen Baum, der seit über hundert Jahren seine Blätter an dieser Stelle fallen lässt, unbekümmert davon, ob sie sich auf Erde, Pflasterstein oder einen chemisch gelb gespritzten Fussgängerstreifen legen. Und plötzlich wird mir bewusst, dass ich mit dem Baum eigentlich mehr gemeinsam habe, als mit dem Smartphone, um das ich so selbstverständlich meine Lebensorganisation aufgebaut habe. Dass ich auch Natur bin. Und wie fremd mir diese einfachste Tatsache geworden ist.
Kürzlich sass ich mit unserer viermonatigen kleinen Tochter im Zug. Feierabend. Alle Sitze besetzt, und alle Mitreisenden mucksmäuschenstill und so gründlich vertieft in ihre Dokumente und Bildschirme, dass nun wirklich niemand auf die Idee gekommen wäre, dass sich hier Mitmenschen den Raum teilten. Ausser dem kleinen Mädchen, das die Gegenwart anderer Leute bisher meistens toll findet, ungefragt alle anstrahlt und gerne geräuschvoll ihre Freude über ihre Beobachtungen mitteilt. Sie blickte neugierig umher und versuchte vergeblich Kontakt herzustellen, akustisch und mit Blicken, und manchmal schaute sie auf zu mir, wie mir schien etwas ratlos. Was ist denn mit denen los? Es dauerte eine Viertelstunde, dann haben sich immerhin zwei Frauen erweichen lassen, ihre Bildschirme hingelegt und zurückgelächelt.
Momente als Mitmenschen, als natürliche Lebewesen, die sich vor allem anderen einen Planeten und das Dasein teilen, das wünsche ich uns allen in neuen Jahr.