Der Kabarettist Gabriel Vetter wurde kürzlich zum Stadt-Land-Graben befragt. Er sagte, in seiner Wahrnehmung spreche man auf dem Dorf eher über Themen, die für den Alltag unmittelbar relevant seien, während man in der Stadt schneller theoretisch und philosophisch werde. Verkürzt: Das Dorf bespricht den konkreten Fall, der in der Nachbarschaft stattfindet. Die Stadt verhandelt die Theorie, nach der man Fälle einordnen müsste. Als Pendler zwischen Stadt und Land leuchtet mir diese These im Grundsatz ein. Weil man im Dorf das Problem einer konkreten Geschichte wahrnimmt, das in der Anonymität der Stadt aber erst relevant wird, wenn es mehrere Fälle betrifft.
Gern hätte ich mitbekommen, ob und wie im Tal diskutiert wurde über den Frutigländer-Artikel zum Thema «Geschlechterfragen» vom letzten Monat. Mein erster Gedanke dazu war: Das habe ich mir nie überlegt in meiner Frutiger Jugend. Erst in einem städtischen Umfeld und mit den studierten Seminar-Lehrpersonen wurde ich konfrontiert mit einem Wort wie «Sexismus». Zuerst war ich da skeptisch, denn mir kam es allzu theoretisch vor: In meinem Freundeskreis war es selbstverständlich, dass wir Frauen respektierten und sie dazugehörten und überall teilnehmen konnten. Das machte mich schon mal unverdächtig vor mir selber.
Aber nach und nach sah ich weniger nur meinen konkreten Fall: Die Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit Geschlechterrollen verstecken sich oft in den Spielregeln, und zeigen sich selten als bewusste Böswilligkeit. In den Lohnverhandlungen etwa, wo Zurückhaltung meist nicht honoriert wird. In den Gesprächskulturen, die in Vereinen und in der Politik gepflegt werden, in denen die lautere Stimme, das aggressivere Statement sich besser durchzusetzt. Das sind «männliche» Spielregeln, die aber «andere» Männer genauso benachteiligen wie Frauen. Auch der Sexismus (um dieses «böse» Wort zu verwenden), der meine Jugend begleitet hat, war diese gut getarnte Version: Es gab keine aktive Verachtung, aber die Selbstverständlichkeit einer unhinterfragten Rollenverteilung. Keine bösen Gedanken, kein Problem. Vielleicht ist genau das «böse», das dem Wort Sexismus anhaftet das Problem: Weil sich viele von Boshaftigkeit ehrlicherweise freisprechen können, scheint die Auseinandersetzung mit der passiven Ungerechtigkeit und ihren realen Folgen dann unnötig. Bis heute werde ich bei mir immer wieder auf Wahrnehmungsmuster aufmerksam, die Frauen (und Männern!) Rollen zuschreiben, die mehr mit Geschlechterklischees zu tun haben, als mit der tatsächlichen Person, die ich vor mir habe. Und in dem Moment, wo mir das bewusst wird, im Angesicht einer konkreten Person, geht es eben nicht mehr nur um Theorie.
Und nun der Bogen zum Anfang dieser Kolumne: Darin liegt doch eine grosse Chance im Stadt-Land-Austausch. Für das Dorf: Vielleicht betrifft uns diese Theorie ja auch, wenn wir sie nicht allzu leicht abtun. Für die städtischen «Gelehrten»: Sich bewusst zu machen, dass ihre Theorien nur dann etwas ändern können, wenn sie auch im Alltag konkreter Menschen anwendbar sind.