Ist es eigentlich immer noch so, dass die Schüler, die das Widischulhaus besuchen, sich lustig machen über jene, die in Kanderbrück zur Schule gehen? Und umgekehrt, natürlich. Und die Reichenbacher und die Frutiger? Wie versteht man sich, und wie gut ist man aufeinander zu sprechen? Ich erinnere mich, dass uns in meiner Schulzeit die vom anderen Ort immer etwas suspekt waren. Die Kandersteger zum Beispiel, sie waren schon in Ordnung, zumindest die, die zu uns in die Sek kamen, aber eigentlich schon ein bisschen komisch diese Kandersteger, oder? Das fanden sie von uns Frutigern natürlich auch.


Es haben bereits viele ihre Meinung kundgetan zu dem was vor zwei Wochen in Paris geschehen ist. Alle sind plötzlich Experten und geben ihren Senf zu einer Lage, an der sie damit nichts ändern. Und wie immer bei solchen Ereignissen, werden jetzt überall über die religiösen Aspekte diskutiert. Ist der Islam eine Religion, die zu Gewalt aufruft? Waren die christlichen Kreuzzüge nicht ebenso schrecklich, und eigentlich kann man nur erleichtert sein, dass es damals noch keine automatischen Waffen gab?

Bei aller Betroffenheit haben diese Diskussionen auch etwas Absehbares, sie wiederholen sich, mit neuen Stimmen und Gesichtern. Und unterdessen beschliessen Staatschefs das, was sie schon immer beschlossen haben: Die Gegengewalt. Von der man bereits weiss, dass sie die Wunden vergrössern wird. Dass sie zwar Kräfteverhältnisse ändern kann, aber bestimmt keinen Hass besiegen wird. Auch hier Wiederholung. Wie Einstein gesagt hat: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“
Ein Buch fällt mir oft ein, wenn ich für mich diese Ereignisse einordnen will. Es heisst „Das Böse“, geschrieben vom deutschen Literaturhistoriker Rüdiger Safranski. Er geht darin durch die ganze Geschichte von Religionen, Philosophien und Ideologien und untersucht, wie man sich jeweils das Böse erklärt hat. Und kommt unter anderem zu diesem interessanten Schluss: Das „Böse“ entsteht aus der Sehnsucht, zum „Guten“ zu gehören. Das Gute kann es aber nur geben, wenn man es vom Bösen abgrenzen kann. Die Entscheidung der Anderen, nicht unserem Guten anzugehören, macht sie zu unseren Bösen. Und uns im Gegenzug: zu ihren Bösen.

Der Keim der Gewalt wäre also eine Eigenschaft, die die menschliche Natur zutiefst prägt. Das Bedürfnis, zuzugehören und sich abzugrenzen: Die Widischüler, die die Kanderbrügger irgendwie komisch finden. Die FC Thun-Fans, die gegen die YB-Fans wettern. Die Städter und die Dörfler. Wir Schweizer, die wir den Kopf schütteln schon ab Deutschen, nicht mal nur bei Migranten aus wirklich fremden Ländern. Das Muster ist das gleiche. Das kann harmlos sein. Bis es mit Gewalt aufgeladen wird. Das frühere Jugoslawien ist nur ein Beispiel, in dem diese Abgrenzungen zwischen Bevölkerungsgruppen Feuer gefangen haben und eine ganze Region zur Explosion brachten. Im Gebiet, aus dem die aktuelle Terrorwelle herkommt, lodert es seit Jahrzehnten zwischen Stämmen und religiösen Strömungen. Welche Ideologie dabei bemüht wird, ob eine religiöse oder nationalistische, spielt nur eine untergeordnete Rolle. Hitler hat sein Feuer in Europa ohne Religion entfacht, dafür mit pseudo-wissenschaftlicher Rassenlehre. Schlussendlich geht es um Macht, um eine Besserstellung jener Gruppe, mit der man sich die (wie auch immer absurde) Idee des „Guten“ teilt.

Jetzt habe auch ich meinen Senf dazugegeben, und auch das ändert nichts. Fragen Sie mich nicht, ob ich Hoffnung habe auf eine gute Lösung. Ein bisschen Hoffnung hätte ich vielleicht, wenn schon nur Menschen in friedlichen Ländern „das Andere“ interessant finden würden, anstatt irgendwie komisch. Wenn sich bei einem Fussballspiel alle freuen würden, wenn die bessere Mannschaft gewinnt, egal welches Trikot sie trägt. Wie schätzen Sie unsere Chancen auf Hoffnung ein, so einen Monat nach jenen Wahlen, bei denen die Partei mit dem Lieblingsthema „Abgrenzung“ wieder mal gewonnen hat?