Ich versuche auf dem Boden zu bleiben beim Reisen. So habe ich auch diesen Sommer ein paar Tage in Zügen und Bussen verbracht unterwegs nach Südosteuropa. Da hat man Zeit, die wechselnden Landschaften vor dem Zugfenster zu betrachten. Da hat man Zeit, mal wieder 100 Seiten am Stück zu lesen und packt Bücher ein, die im zerstückelten Berufsalltag zu lang wären. So sass ich mit „Rot ist mein Name“ des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk im Eurocity, und tauchte ein in die Welt der muslimischen Buchmaler im Istanbul von 1591.
Dort herrschte gerade der Bilderstreit: Eine neue, realistischere Maltechnik kam auf, inspiriert von der venezianischen Kunst der Epoche, und die Traditionalisten sahen das als Sünde. Wie die Bibel verbietet es der Koran „ein Bildnis zu machen“, wegen der Versuchung, das Bildnis mit „dem Wahren“ zu verwechseln und an Stelle des Wahren anzubeten. Pamuk hat daraus einen spannenden Krimi gemacht. Und er beschreibt das alte Istanbul dermassen lebendig, dass mir beim Blick hoch die moderne Welt vor dem Zugfenster fremd und absurd erschien.
Vielleicht wäre es mir auch ohne die Lektüre so ergangen, denn der Kontrast zwischen der überwältigenden österreichischen Alpennatur und der darin verteilten modernen Zivilisation ist absurd genug. Die blechernen und aus Beton gegossenen Industriebauten und Einkaufzentren entlang der Bahnlinie, an den Dorfrändern, wir kennen sie zu genüge auch aus unserer Region: Eckige Funktionalitätsarchitektur ohne erkennbare ästhetische Ansprüche. Vor den Felsen, Wäldern, Flüssen, Hügeln und sommerlichen Wiesen hat mich das traurig gemacht. Auftauchend aus einer historischen Buchwelt mit dunklen Nächten, Holzhäusern und Pferdewagen, kam mir unsere moderne Gestaltung der Umwelt unglaublich vor. (All das natürlich voll innerer Widersprüche im Bewusstsein, dass ich gerade in einem modernen Hochgeschwindigkeitszug reiste…)
Mir fiel ein, wie die Befürworter der Minarettinitiative damals argumentiert haben, mit sichtbaren sakralen Bauten würde eine Kultur ihren Anspruch auf das Territorium markieren. Die Zugfahrt durch Österreich bestätigt das in gewisser Weise: Fast über jeder Ortschaft thront eine Kirche. Das Christentum hat seinen Anspruch auf das Territorium gründlich sichtbar gemacht. Und doch wirkt er nicht mehr. Das Territorium hier ist besetzt von prunkloseren Bauten, die aber die Botschaft der wahren neuen Religion des Abendlandes markieren: Schnelligkeit, Billigkeit, alles im kurzfristigen Sinn von Wachstum und Gewinnmaximierung: Das sind die Industrie- und Konsumtempel in der Landschaft. Auch die Wohnhäuser repräsentieren eine Geisteshaltung: Isolation, gleichgeschalteter Individualismus, Maskerade und Verschlossenheit. Der Wohlstand wird nach aussen markiert, aber lässt niemanden rein. Welch eine schöne Welt, dachte ich, und welche eine zauberlose Welt wir da hineingebaut haben. Die beglückende Verspieltheit und Poesie der Schöpfung, ihre feingliedrige und sehr langfristige Funktionalität, und darin unsere klobigen, zukunftslosen und allzuoft schädlichen Produkte.
Ich stellte mir eine Landschaft vor, in der noch nicht einmal religiös begründete Machtansprüche das Territorium markierten, in der die Schöpfung selbst die lauteste Botschaft im Landschaftsbild war. Ich fühlte mit den Traditionalisten in Pamuks Buch, und wusste dabei schon um ihr Schicksal: Sich gegen unvermeidliche Veränderungen zu stellen, bedeutet vor allem, dass man den Untergang einer Welt zum Untergang seiner eigenen Welt macht. Sinnvoller wäre es also, einen positiven Zukunftsentwurf zu denken, der akzeptiert, dass man die Zeit nicht zurückspulen kann und der mit einbaut, was an unvermeidlicher Energie in der Welt bereits freigesetzt ist. Z.B. Forschung im Dienst von ökologisch verträglichen Produkten und Lebensweisen. Z.B. Eine Migrationspolitik, die nicht an Ländergrenzen ansetzt, sondern bei den Gründen für die Migration.
Vielleicht sollten wir auch einigen unserer Politiker mal eine lange Zugreise mit Orhan Pamuk verschreiben?