Vom Oberland her kommend erlebe ich im Zug öfters, wie bei der Einfahrt in den Bahnhof Bern, wenn rechterhand die bunte Fassade der Reitschule ins Blickfeld kommt, ein Kopfschütteln durch die Abteile geht: „Steht dieser Schandfleck also immer noch, mit seinen struben Sprayereien, dieser Drogentempel, Hort der linken Berner Terrorszene!“
Ich nehme es niemandem übel. Man kennt wohl nur die Überschriften der Zeitungsartikel: Dass sich Drogendealer Sans-Papiers und Vandalen dort verkriechen. Und wenn die Polizei sie holen will, gibt es Widerstand, bei dem Beamten um ihr Leibeswohl fürchten. So dramatisch, so einseitig.

Ich möchte hier versuchen aus meinen Stadtjahren einen etwas vielfarbigeren Eindruck dieses Ortes zu zeigen. Ich habe in der Reitschule zwei Plattentaufen gespielt, war mit fast all unseren Theaterproduktionen zu Gast, ich habe Filme gesehen, Konzerte besucht, auf dem Flohmarkt eingekauft, Nächte durchgetanzt und vor allem unzählige Male die preisgünstigste Bio-Küche Berns genossen – die notabene auch eine der besten der Stadt ist, und zwar mittags wie abends.

Ein einziges Mal war ich dabei, als es zu einem Polizeieinsatz kam. Ein Sommerabend, auf dem grossen Vorplatz befanden sich um die 1000 Leute, vielleicht auch mehr. Darunter waren neben ReitschulbesucherInnen auch viele, die ihre eigenen Getränke brachten. Die Stimmung war belebt und fröhlich, wie meistens am einzigen Ort in der Bundesstadt, wo man ohne Konsumzwang und Lärmklagen auch in grosser Gemeinschaft abhängen kann. Dann: Eine Gruppe vermummter Kapuzenmenschen schleppte Abfallsäcke auf die Strasse und zündete sie an. Einige Besucher versuchten, sie davon abzuhalten und wurden mit roher Gewalt zurückgestossen. Bald kam die Polizei, wurde von denselben Gestalten mit Flaschen beworfen, Chaos brach aus, man flüchtete in den Innenhof der Reitschule, Gummigeschosse landeten auch dort. Die Vermummten hatten unterdessen ihre Kapuzen runtergezogen, waren von den anderen Jugendlichen nicht mehr zu unterscheiden und tauchten in der Menge unter.

Ich war sehr wütend nach dem Abend. Wütend auf die Unruhestifter. Wütend auf die Presse. Dort wurde nur in Nebensätzen die friedliche, unschuldige Menge erwähnt. Die Mehrheit der BernerInnen hat zum Glück trotzdem erkannt, dass die „Chaoten“ (wie sie dann genannt werden) nicht einfach mit der Reitschule gleichsetzt werden können. Dass die sehr engagierten Menschen in den Gruppen des Kulturzentrums (Küche, Druckerei, Theater, Kino, Frauenraum, Konzerträume, usw.) ebenso Probleme haben mit gewaltbereiten Gästen. Auch die manchmal ausartenden politischen Aktionen haben ihre Heimat in anderen Reitschul-Gruppen. Die Reitschule ist ein vielköpfiger Betrieb, über dessen komplexe basisdemokratische Strukturen wohl noch Bücher geschrieben werden. Über seine unbezahlte Sozialarbeit auch. Denn dort ist der Punkt:

Wo wären z.B. diese 1000 Leute an jenem Abend sonst gewesen? Die vielen friedlichen, die ihre Freizeit nicht in einem Konsumtempel voll aufgeputschter Modeopfer verbringen wollen, wo man 7Fr. pro Bier bezahlt? Ein Ort wie die Reitschule wird zum Biotop für viele, die in der durchgestylten Glitzerwelt des normierten Ausgangs nicht dazugehören können oder wollen. Wenn man die Reitschule schliesst, werden diese Menschen (ich meine auch mich) weder plötzlich dazugehören noch einfach zuhause bleiben. Das gilt auch für jene Minderheit, die gewaltsam gegen die Konsumgesellschaft demonstriert. Ich bin mit der Wahl ihrer Mittel oft nicht einverstanden. Aber ich will in einer Welt leben, in der man diese Stimme zu Wort kommen lässt und ihr einen Platz zugesteht ausserhalb von Gefängnissen.

Bern ist (und bleibt hoffentlich) eine Stadt, die das tut, die die Herausforderungen, die es mit sich bringt annimmt. Und vielleicht kommen ja auch Sie mal zu Besuch an der Schützenmatt, zu einem Konzert, einem Theaterstück, einem feinen Znacht. Machen Sie sich selbst ein Bild. Ich verspreche Ihnen, der Fussballmatch ist gefährlicher.