Ich erinnere mich gut, dass Städte für mich in meiner Jugend mit drei Worten rasch umschrieben waren: Grau, lut u gruusig. Die Leute grüssen sich nicht auf der Strasse, überall Verkehr, ein riesiges Gehetze. Die jungen Thuner waren „die Coolen“, die im Selveareal tanzen gingen, Fila-Schuhe und -Hüte trugen und „mau“ sagten anstatt „mal“. Und die Mädchen waren geschminkt, mit 16! Das kam mir damals reichlich frivol und dekadent vor. Als wir dann später regelmässig in den Ausgang gingen nach Thun, begegneten wir auch den umgekehrten Vorurteilen.

Spätpubertär verunsichert versuchte man, charmant in Kontakt mit den Frauen zu kommen, und ich sagte etwa: „Uuh, hesch leehr, sölli dr no iinisch es Bier ga hole?“ „Wie redsch de du, bisch du e Buur?“, kam es zurück. „S’git gar ned so viil Buure z’Frutige“, dachte ich nur. Dass gerade auch die Mädchen uns oft zuerst als Hinterwäldler wahrnahmen, dürfte aber auch für andere Oberländer Jungs ein Hauptgrund gewesen sein, den Dialekt nach und nach ein bisschen anzupassen. (Darauf bin ich übrigens nicht stolz, aus heutiger Sicht wünschte ich, ich hätte „dr Frutiger dürigezoge“. Tja.)
Seit gut 10 Jahren reisen wir nun schon durch die Schweiz mit der Musik, und ich bin so in Regionen gekommen, die ich als Tourist kaum besucht hätte. Schon mal den Aargau besichtigt? Ich durfte Zofingen, Olten, Aarau, Brugg, Baden, Bremgarten unterwegs entdecken, Städte, die ich vorher nur als Ausfahrten an der Autobahn A1 wahrgenommen hatte. Sie haben allesamt sehr hübsche Innenstädte und sie verkörpern ein nicht einfach so verwechselbares „Lebensgefühl“. Auch weiter abseits der A1 landen wir auf Tour: In Rüti, in Herisau, in Sempach, in Stans.
Beim Spaziergang kann man sich noch am Vorurteil festhalten: Beschaulich, bünzlig, typisch. Balkone mit Ikea-Möbeln, hinter den Fenstern flimmert das blaue Fernsehlicht. Aber wenn man dann im Konzertlokal ankommt, lernt man die Menschen kennen: Engagierte Kulturtäter, die oft in ihrer Freizeit Veranstaltungen auf die Beine stellen, im Dienst an ihrer Gemeinschaft. Wir gehen essen vor dem Konzert und sie führen uns in eine alternative Beiz in der Nebengasse, die wir alleine nie gefunden hätten. Zurück im Club sind die ersten Gäste da und man kennt sich, eine Gemeinde eben, ein oft bunt gemischter, spannender Haufen Leute, die eben gerade nicht dem blauen Flimmern im Wohnzimmer huldigen. Ein dankbares Publikum, wach und neugierig.
Oft ergeben sich Gespräche nach den Auftritten, und wenn dann die Frage auf meine Herkunft kommt, lerne ich Frutigen aus der Fernsicht kennen. Früher hiess es im ersten Satz immer: „Ah Frutigen, da bin ich mal umgestiegen auf dem Weg ins Skigebiet.“
Heute heisst es öfter: „Ah, da bei diesem Tropen-Zentrum am Berg!“
Der zweite Satz hat sich nicht verändert: „Ah, das ist doch dort, wo alle in die Kirche gehen!“
Ich habe mir auch schon vorgestellt, ich wäre ein Musiker aus dem Zürcher Oberland und diese Klischees wären mein Vorwissen über Frutigen. Ich würde eine Einladung erhalten in der Badi-Lounge Frutigen zu spielen. Das Tropenhaus würde ich bereits von der Schnellstrasse aus entdecken, die Ausfahrt aber verpassen und deshalb noch linkerhand einen kurzen Blick auf die neue Industriezone Flugplatz erhaschen und den Anblick vor der wunderschönen Bergkulisse etwas ernüchternd finden. Bei der Fahrt durch’s Dorf würde ich mich freuen, dass ein Musikalien-Geschäft in einem Bergtal so lange an der Hauptstrasse überlebt hat. Und in der Badi-Lounge angekommen würde ich von Reto, Ivo und Marco empfangen und bereits nach einer Tasse Kaffee würde ich denken: Ha, auch Frutigen ist so ein heimlifeisser Ort wie Stans oder Bremgarten, wo mit Herzblut von offenen und engagierten Idealisten für eine kleine Gemeinde Kultur veranstaltet wird. Und mein Bild von der Welt wäre wieder etwas reicher, weil ich einmal mehr erkennen dürfte, dass es vielfarbiger wird, je näher ich hinschaue.