Diese Woche ist meine Kolumne eine überlange Postkarte. Ich mache gerade Musikerferien in einem Häuschen in Südfrankreich. Musikerferien, das heisst, Ferien von allem anderen, um nur Musik machen zu können. Damit werden die Ferien aus dem „gewöhnlichen“ Arbeitsverhältnis natürlich trotzdem aufgebraucht, aber ich beklage mich nicht. Ich teile diese Umstände mit dem allergrössten Teil der Musikerinnen und Musiker der Schweiz. Auch bei den richtig grossen Bands (mit Ausnahme der Hauptfiguren, manchmal) spielen die Leute entweder in mehreren Bands oder arbeiten zumindest teilweise als Angestellte. Das nur nebenbei. Ist ja vielleicht mal gut zu wissen.
Also, ich bin also hier in Les Alpilles in der Provence, wo man das Winter nennt, was bei uns schon ein ziemlich annehmbarer Frühling wäre. In der Regel. Am Abend als ich ankam, schneite es gerade. Im Feierabendverkehr auf einer Passstrasse ohne Winterdienst war das kein grosser Spass (es ist natürlich nur ein Pässlein, von den Alpen aus gesehen). Nach zwei Tagen war der Pflotsch dann wieder weg, und mir war es einerlei, weil ich ja Arbeit mitgenommen hatte. Das Abmischen der Songs war dann gar nicht so einfach, weil sich draussen nun der Mistral ins Zeug legte. Zuerst dachte ich, jemand tanzt im Estrich des kleinen Häuschens, in dem ich hier logiere. Aber es gibt gar keinen Estrich. Das Gebälk tanzte ganz allein. Ich habe mich damit beruhigt, dass die Häuser hier ja schon älter sind, und vermutlich also so gebaut, dass sie dem bisschen Wind schon standhalten werden. Da ich hier auch kein Internet habe, wusste ich nicht recht, ob ich gerade ahnungslos mitten in einer Naturkatastrophe verharrte. Gegen Abend hatte ich dann keine Wahl und wagte mich aus dem Haus um etwas zu Essen zu finden. Ich weiss jetzt, wie sich die Leute fühlen, die man in lustigen YouTube-Clips vom Winde verweht werden sieht. Die paar hundert Meter hinauf ins Dorf waren spannend. Vereinzelt lagen Ziegel auf der Strasse, und vom ächzenden und knarzenden Geäst, das über der Strasse jeden Moment loszureissen drohte, hielt ich mich möglichst weit entfernt. An der ersten Ecke öffnete mir der Wirt eines kleinen Italieners die Tür, die er zum Schutz vor dem Wind abgeschlossen hatte. Hier wurde ich nun meine Frage los, ob man sich sowas gewohnt sei. Jaja, das seien nur 130km/h, angekündigt seien 140 gewesen. Aber Spazieren gehe man auch hier eher nicht bei diesem Wetter. Gut zu wissen.
Hunger? Hunger! Ich bestellte, der Koch hinter dem Tresen, vom freundlichen Patron immer Tarek gerufen, legte los. Später kam ich mit Tarek ins Gespräch, und als ich erwähnte, ich sei Schweizer, erzählte er, er habe mal eine Zeit lang in Fribourg gekocht. Tarek ist halb-halb Marokkaner und Italiener, und er eröffnet mir eine neue Perspektive auf mein Heimatland.
La Suisse, oui, c’est dure là, la vie, hein!, seufzte er.
Dure? Comment-ça?, fragte ich nach.
Und Tarek legte nochmal los.
Die Temperaturen! Immer diese Kälte, man muss viele Kleider anziehen und kann kaum draussen sein.
Und das Licht! Ihr habt ja kein Licht da, nur bisschen matten Himmel, dunkle Landschaften und diese wahnsinnig lange Nächte, und wenn es mal Tag wäre, kommt der Nebel.
Und das Wetter! Dauernd ist es feucht, hat gerade geregnet oder regnet gleich wieder, und damit ist zum Schnee noch nichts gesagt!
Tareks Mitleid war aufrichtig, merkte ich, und fühlte mich ein bisschen, wie ein Tourist aus der öden Leere Sibiriens.
Tarek war nicht lange in der Schweiz, er hat es nicht ausgehalten. Auf dem Heimweg habe ich mich gefragt, wie lange wohl genau, vermutlich kein ganzes Jahr. Und habe beschlossen aus meinen ersten Tagen in Les Alpilles kein allzu generelles Urteil über die Lebensqualität in dieser Region zu basteln. Und habe beschlossen, dass ich nun zumindest eine gute Antwort habe, wenn mich wieder mal jemand wahnsinnig beneidet dafür, dass ich Schweizer bin. Das ist man sich als reisender Schweizer eher gewohnt. Ich kann dann von Tarek erzählen. Gut zu wissen.
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