Die letzte Reise, die ich gezielt für das Heldelieder-Projekt gemacht habe, führte mich nach Nordafrika. Im Herbst 2012 war die Berichterstattung aus der Region geprägt von den Angriffen auf die amerikanische Botschaft in Lybien und von den Unruhen in den Ländern des „arabischen Frühlings“, gerade auch in Tunis. Von der Schweiz aus gesehen waren zwei Themen im Zusammenhang mit Tunesien prägend: Einerseits die Welle von Flüchtlingen aus der Region, weil sich die Hoffnungslosigkeit dieser „Flucht“ nur langsam als Nachricht in Nordafrika verbreitete. Wie viele andere Länder auch, nimmt die Schweiz keine Wirtschaftsflüchtlinge auf. Andererseits weil in den ersten Wahlen eine religiös geprägte Regierung an die Macht gekommen war. Wie vielerorts in den Staaten des arabischen Frühlings, musste sich auch Tunesien mit der Frage konfrontieren, wessen Revolution es gewesen sei. Nach dem Sturz des Ben Ali-Regimes hatte es sich bald mit den Gemeinsamkeiten der Revolutionäre. Die lange unterdrückten praktizierenden Moslems wollten endlich ihre Religion leben können, und die radikalen Salafisten drängten (und drängen) gar auf einen islamischen Staat. Gleichzeitig freute sich die andere Seite, liberale, europäisch geprägte TunesierInnen, auf eine tatsächlich freiere Gesellschaft: Überall wurden Vereine gegründet, man wollte jetzt auch kontroverse Meinungen vertreten dürfen. Die „Befreiten“ standen sich als neue Fronten gegenüber.
Aussicht über Tunis
Als ich an einem frühen Morgen im September 2012 mit dem Schiff aus Genua in Tunis ankam, hatte ich keinen Plan, wohin als nächstes. Über einen Taxifahrer, eine Mitreisende im Louage (Bustaxi) und eine Handvoll zuvorkommender, hilfsbereiter Menschen, konnte ich wenige Stunden später in der Hügelstadt El Kef mein erstes Quartier beziehen, im wunderschönen Anwesen von Besma und Nuredin. Das war grosses Glück: Die beiden engagieren sich intensiv für die Region um El Kef und um sie herum lernte ich eine Gruppe Leute kennen, die sich mit ihren gesellschaftlichen Überzeugungen aktiv in die oben beschriebenen Konflikte einmischten: Gleich von drei neuen Vereinen waren Leute anwesend, und ich begriff, dass das Vereinswesen nicht überall jenen etwas muffigen Geruch hat, wie bei uns in der Schweiz. Für die Tunesier sind sie eine Organisationsform, die unabhängig von politischen Parteien und ihren Wahlerfolgen und -misserfolgen eine kontinuierliche gesellschaftliche Aufgabe übernehmen können. Bezeichnend, dass Ben Ali sie verboten hatte. Angst war spürbar: In El Kef hatte man das Kino geschlossen. Besma, eine energievolle, gutaussehende und lebensfrohe Mit-Fünfzigerin, erzählte, dass sie neuerdings auf dem Markt in der Stadt argwöhnisch beäugt werde, wenn sie -wie es für sie seit Jahren selbstverständlich war- mit offenen Haaren und sommerlich gekleidet einkaufen gehe.
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El Kef
An meiner nächsten Station, dem nördlich an der Küste gelegenen Tabarka, wurde mir klarer, was besma meinte. Nach einem Abendessen wollte ich noch etwas lesen und ein Glas Wein trinken, aber in der ganzen (touristisch geprägten) Stadt fand ich kein Lokal, in dem Alkohol serviert wurde. Ich war nicht auf Provokation aus, ich hatte nach den ersten Tagen bei den europäisch geprägten Freunden in El Kef schlicht nicht damit gerechnet, dass die Frage nach einem Glas Wein mir derart böse Blicke bescheren würde. Ich bestellte dann Tee, er wurde mir widerwillig serviert, und auf dieser Terrasse mit kartenspielenden, laut lachenden, ebenfalls Tee trinkenden Männern, fiel mir zum ersten Mal auf, was meine zweite religiös- kulturelle Lektion auf dieser Reise sein würde: Da war weit und breit keine Frau. Ausserhalb der touristischen Zonen der grossen Städte Tunis und Gabes, die ich später besuchte, habe ich in Tunesien nie eine Frau in einem Café oder in einer Bar gesehen.
Bereits mein Taxifahrer am Hafen hatte geschimpft über den Müll in den Strassen neuerdings, und wie sich die Staatsangestellten ihrer Faulheit ergeben würden, seit die strenge Hand Ben Alis einer im Tagesgeschäft unerfahrenen Exekutive aus ehemaligen politischen Verfolgten gewichen sei. Im Touristenort Tabarka fand ich gebrauchte Windeln am Strand, und das illustrierte diese „Nebenwirkung“ des Systemwechsels, eine, die in unseren Medien ob all der anfänglichen Freude über die „Befreiung“ damals noch kaum thematisiert worden war. Ein Land und seine Gesellschaft müssen nicht nur im politischen und ideelen Sinn eine „Führung“ haben, schlussendlich müsste auch das „Daily Business“ einer Staatsorganisation verstanden und gemanagt werden.
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Tabarka
Die Reise ging dann weiter nach Tunis, wo ich bei einer Berner Freundin zu Gast sein konnte, die da bei der Schweizer Botschaft arbeitet. Die Tage in Tunis waren ereignisreich: Ich fiel auf den ältesten Taschendieb-Trick herein und hatte fortan nur noch meinen Reisepass und ausgelehntes Bargeld. Das erwies sich über den Rest der Reise als interessanter Türöffner für viele Gespräche über die Veränderungen der tunesischen Gesellschaft. Der Ärger über den Diebstahl war gross, ausser bei den eigentlich zuständigen Polizeibeamten, die erst nach ihrem zweimaligen Versuch, mich auf einen anderen Posten zu schicken, und nach stundenlangem Warten, endlich einen Bericht aufnahmen, dank dem ich dann meine Dokumente wieder bestellen konnte (obwohl er auf arabisch statt französisch verfasst war…). Ebenfalls in jenen Tagen gab es einen grossen Angriff auf die amerikanische Botschaft in Tunis, und es war lange unklar, ob auch Ausgangssperren verhängt würden.
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Meine Gastgeber in Douz
Bei meinen weiteren Ausflügen in andere Regionen des Landes (die Insel Kerkennah, die Städte Tozeur und Douz am Rande der Sahara, Gabes am Mittelmeer) staunte ich, wie weit weg Tunis mit seinen Unruhen auch für die „Landbevölkerung“ waren. In den Wüstenstädten wird die Nähe zur Religion selbstverständlicher gelebt als in den urbanen Zentren. Trotzdem sagte man mir auch dort immer wieder, man wolle die den Glauben zwar leben, aber einen Gottesstaat wünsche man sich nicht. Leben und leben lassen. Natürlich versuchen die meisten Leute, mit denen ich ins Gespräch kommen konnte, vom Tourismus zu leben. Wie repräsentativ ihre Haltungen sind, kann ich nur schwer beurteilen. Aber ich war beeindruckt von ihrer Toleranz, auch gegenüber sich selber scheinen sie nicht mit heftigen Widersprüche zu kämpfen, wenn sie einen weltlich geprägten Alltag mit ihrem islamischen Glauben kombinieren. Dennoch: Der von einem debilen Amerikaner ins Netz gestellte islamfeindliche Film (der auch als angeblicher Grund für den Mord am US-Botschafter in Lybien gennat worden war) wurde von all meinen Gsprächspartnern 8und es waren halt ausschliesslich Männer, zwangsläugfig) heftig verurteilt, obwohl niemand ihn gesehen hatten. Er ist grotesk und grottenschlecht, dumm und dermassen nicht der Rede wert, dass seine Breitenwirkung via Internet einem tatsächlich Angst machen musste. Ein solches Stück digitaler Umweltverschmutzung konnte auch als Gerücht die touristenfreundlichen, moderaten Moslems aufbringen. Diese tiefe Verwurzelung des Glaubens auch im weltlichen Alltag zu spüren, hat mich aufgewühlt. Und wie so oft auf diesen Reisen für „Heldelieder“, ent-deckte ich mit mit meinem Anspruch mehr zu verstehen, gerade genug um mir einzugestehen, wie anmassend ein solcher Anspruch war. Ich hatte gerade mal eine ersten Blick auf die Kulissen geworfen, und wusste nun mehr denn je um eine gänzlich unbegriffene Welt dahinter, von der Innenwelt der Protagonisten auf der Bühne ganz zu schweigen.Diese Protagnisten begegnen uns in unseren Schweizer Strassen. Ihre Fremdheit multipliziert sich, weil sie nun in unserer vertrauten Kulisse stehen.
Dabei sind die Gründe, weshalb sie zu uns „flüchten“ zwar nicht persönlich nachvollziehbar für uns, aber eigentlich nicht schwer zu verstehen. Bei meinen Begegnungen fiel mir irgendwann auf, dass viele Männer alleinstehend waren, auch in meinem Alter und älter. Wenn ich ich sachte danach fragte, war die Antwort immer dieselbe: „Eine Frau kann ich mir nicht leisten.“ Das hat natürlich nichts mit luxuriösen Ansprüchen der Tunesierinnen zu tun, sondern mit der gesellschaftlichen Erwartung an einen Ehemann und Familienvater. Er muss zumindest ein Haus und ein Einkommen vorweisen können, oder die immanente Aussicht darauf.
Ich war unterwegs aus der Sahara-Stadt Douz in Richtung Gabes, und dachte über diese sehr unromantische Beziehungs-Hürde nach, als das Bustaxi ein Ortsschild passierte: „El Hamma“. Ich fragte mich, ob Mani Matter seinen Sidi Abdel Assar auch in Tunesien kennengerlernt hat. Für „Heldelieder“ wurde aus dieser Reise in die Wüste der Song „Ismael“. Dass nicht jeder junge Tunesier, der nach Europa kommt, sein Brautgeld verdienen will, ist anzunehmen. Dass wenige, von jenen, die bei uns über „Wirtschaftsflüchtlinge“ schimpfen, sich diese privatesten Auswirkungen wirtschaftlicher Armut vor Augen führen, ist es wohl leider ebenso.