Vor der Rückkehr nach New York City

Drei Monate und einige Tage habe ich in der Schweiz verbracht.

Etwa zwei Wochen bevor ich meinen Flug zurück nach New York hatte, begann ich relativ nervös zu werden. New York war gut zu mir gewesen in meinen ersten drei Monaten in der Stadt. Ich war im Sidewalk Café auf Anhieb in einer Szene gelandet, in der ich nicht nur Inspiration und einige Shows fand, auch neue Freundschaften waren entstanden, die mir Mut machten, das heimelige Bern für weitere drei Monate hinter mir zu lassen.

Einiges hatte sich getan seit meiner Rückkehr in die Schweiz. Die Trummer-Live-Band, die doch für drei, fast vier Jahre relativ stabil gewesen war, löste sich auf. Immerhin hat niemand die Band aufgelöst, es war also alles ganz friedlich. Nach unserer zweiten Platte und Tour war irgendwie klar, dass nun ein neues Kapitel kommen musste, und als ich im Februar zum ersten Mal nach New York reiste, konnten sich alle überlegen, wie sie sich das vorstellen würden. Für mich war klar, dass ich den ermutigenden Start in New York noch etwas weiterverfolgen wollte,  und die Jungs hatten alle in der Zwischenzeit genügend andere Beschäftigungen gefunden. So ist im Moment nicht klar, wann und wie es mit Trummer und Band weitergehen wird, aber es besteht auch gerade kein dringender Grund das zu klären.

Was unter anderem mit den weiteren Dingen zu tun hat, die sich seither ergeben haben:  Bereits vor meiner Rückkehr nach New York wusste ich, dass ich die Bowmans, die momentanen Prinzessinnen der Sidewalk-Szene, auf Teilen ihrer Amerika-Tour würde begleiten können, und wir hatten ebenfalls begonnen, eine gemeinsame Europa-Tour zu planen, die uns auch durch die Schweiz führen wird, die ich aber solo spielen werde. Bis Anfang nächstes Jahr bin ich also quasi ausgebucht als Solo-Act, und eine Band wäre eh arbeitslos.

Am 6. August landete ich zum zweiten Mal in diesem Jahr auf den JFK-Airport in Brooklyn, und die Spannung war immens: Würde sich in der Sidewalk Szene überhaupt noch jemand wirklich an mich erinnern? Würden die Bekannten bei meiner ersten Show in Sidewalk Cafe nur drei Tage nach meiner Ankunft aufkreuzen? Würde ich einfach anknüpfen können, wo ich Ende April aufgehört hatte?

Die Antworten auf diese Fragen waren durchzogen.

Einerseits wurde mein Kurzauftritt bereits am ersten Abend beim traditionellen montäglichen Open Mike tatsächlich als „the big return of“ angekündigt, bei der Show am Mittwoch war der Publikumsaufmarsch dann aber eher spärlich. Es wird einem nichts geschenkt in New York City. Immerhin wurde ich von den engeren Freunden sehr herzlich empfangen und ich merkte auch, dass Präsenz im MySpace während meiner Abwesenheit das eine oder andere für mich getan hatte. Gerade Neulinge auf der Szene (von denen es in den drei Monaten schon wieder unzählige gegeben hatte) hatten „schon von mir gehört“ und offenbar Gutes. Das war ermutigend.

Die dunkle Seite der Stadt

Der grosse Teil des Monats August war dann also vollgepackt mit Arbeit. Tagelang sass ich mit Claire Bowman vor den Laptops um mir auch noch einige Shows entlang ihrer Amerika-Tour zu buchen und um die Kalender für unsere Europa-Tour zu füllen. Das hatte seinen Preis. Ich hatte mir (auch zwangsläufig) vorgenommen, meine Ausgaben auf das Nötigste zu reduzieren und nicht mehr wie ein Schweizer Tourist durch die Stadt zu gehen. Womit mir erst tatsächlich bewusst wurde, was die Entscheidung Musiker zu sein in dieser Stadt bedeuten kann. Man kann schon mal etwas die innere Balance verlieren, wenn man die Tage in einem winzigen Apartment im dreckigsten, heissesten und lautesten Teil von Brooklyn verbringt, vor dem Computer, dann abends nur ausgeht, wenn es gratis ist und sich auf ein Bier beschränkt usw. Ich will nicht klagen, das waren meine eigenen Entscheidungen und ich wollte es offenbar wissen. Bemerkenswert ist aber, wie sich auch mein Blick auf die Stadt damit geändert hat. Von einem Ort, an dem alles möglich scheint (womit ich natürlich vornehmlich die positiven Dinge gemeint hatte), hat sich New York inzwischen in einen unfassbaren Ort, an dem tatsächlich alles möglich ist, verwandelt: Plötzlich wird mir die Feindseligkeit in den Blicken unserer Nachbarn bewusst, die genau wissen, dass ihre Mieten bald steigen werden, wenn die jungen Weissen anfangen ihrem Quartier zu wohnen. Plötzlich erkenne ich Blutflecken an den Wänden unseres Metro-Eingangs. Eines Abends sitze ich mit Freunden rauchend auf einer Parkbank im East Village und plötzlich fliegt mir mit voller Wucht ein Veloreifen ins Gesicht. Eine Gruppe höchstens dreizehnjähriger Jungs rennt davon. Ich werde gewarnt, ihnen nicht nachzurennen, und als ich etwas später auf der anderen Strassenseite wieder sehe, wird mir bewusst warum: Sie pöbeln alle möglichen Leute an und sind ganz offensichtlich „looking for trouble.“ Ich lerne: Die Kids sind die gefährlichsten, weil sie einerseits genauso tough sein wollen, wie ihre Väter oder älteren Brüder, andererseits noch kaum abschätzen könne, was für Konsequenzen es für sie haben kann.

New York hat seine dunkleren Seiten enthüllt, und wenn man an solchen Tagen auch noch einen deprimierenden Nachmittag am Compi hatte, zu wenig gegessen und die Telefonrechnung gekriegt, wird der schmale Grat zwischen kreativem Leben und Wahnsinn, auf dem viele Künstler hier zu balancieren scheinen, plötzlich nachvollziehbar. Eines Abends hat mir ein befreundeter Songwriter mal aufgezählt, von wem auf der Szene er weiss, dass er auf welchen Psychopharmaka ist, und die Liste hat mich beängstigt. Der Medikamentenverbrauch ist nur eine von vielen bedenklichen Nebenwirkungen, die das US-Gesundheitssystem mit sich bringt. Halbwegs bezahlbare Krankenkassen sind für Leute ohne 100%-Job nicht zu finden, und wenn man einen Full-Time-Job hat, bedeutet das volle Fünf-Tage-Wochen mit zwei Wochen Ferien pro Jahr. Teilzeitstellen sind rar und kommen ohne Krankenversicherung… Für Künstler heisst das also fast in jeden Fall, dass sie ihre Zahnschmerzen, Depressionen und kleinen Verletzungen entweder aushalten oder mit relativ einfach zu erwerbenden Medikamenten selbst behandeln. Und nicht jeder hat berühmte Freunde wie etwa Victoria Williams, für die REM und Konsorten ein Benefiz-Album zur Behandlung ihrer MS eingespielt haben…

Mir wird bewusst, dass wir diese Umstände in Europa meistens ausblenden, wenn wir uns über die „Unkultur“ der Amerikaner aufregen. Die Job-Bedingungen, das Gesundheitswesen, die hohen Studienkosten, an denen viele noch jahrelang abbezahlen. Chris, bei dem wir auf Tour in Detroit auf der Couch übernachten konnten, schloss mit 27 sein College ab, schuldete den Schulen 41 000 $ und verdiente mit seinem Abschluss 14 000$ pro Jahr. Kein Wunder, dass er seine zwei Wochen Ferien, die er seither noch hat, nicht mehr in Europa verbringt…

Ich habe in den letzten Wochen (endlich) George Orwells bedrückende Utopie „1984“ gelesen, und obwohl es im Buch ein pseudo-sozialistischer Staat ist, der seine Schäfchen mit allerlei Tricks bei der Stange (und dumm und müde und ängstlich) hält, erinnert doch vieles darin erschreckend an die USA von heute.

Eine erste Tour durch die Staaten

Nun sind wir Mitte September also gestartet, in einem Toyota Corolla Viertürer, zuerst nach Philadelphia, dann Pittsburgh, Detroit, Chicago, Marshfield in Wisconsin, Davenport in Iowa usw. Für mich ist es nicht nur die erste Tour, auf der ich länger als drei vier Tage am Stück unterwegs bin, es ist auch die erste Reise in diese Städte und die erste Gelegenheit, für US-Publikum ausserhalb von New York zu spielen.

Ich werde selber nur alle zwei, drei Tage einen Auftritt haben, weil die Entscheidung, das ich auf der Tour mit dabei sein würde zu kurzfristig getroffen wurde, um jeden Abend etwas gebucht zu haben, aber auch wenn ich nicht immer spiele, ich werde doch einen Eindruck bekommen von den Clubs, den Gebräuchlichkeiten „on the road“, den Publikumsreaktionen in den verschiedenen Landesteilen. Bereits haben mich die Bowmans gewarnt: Ich kann nicht (wie in New York) relativ selbstverständlich davon ausgehen, dass die Leute an einem Konzert demokratisch wählen und liberal eingestellt sind. Ein paar Tage nach unserem Aufbruch kann ich das bereits bestätigen. Nicht nur weil  die Billboard-Werbungen am Rand der Highways am zweithäufigsten (gleich nach den McDonalds-Solgans) AntiAbtreibungskampagnen zeigen…

Aber dazu mehr im nächsten Teil des Tagebuchs…

Wer auch immer das liest, schön, dass ihr wieder dabei seid!