Erinnern Sie sich an die Mehrspurtonbänder in handgrosser Quadratform? Wer erinnert sich an Minidiscs? Wann haben Sie die letzte CD gebrannt? Gibt es in Ihrem Büro noch USB-Sticks? Und haben Sie alles in Sicherheit gebracht, was noch auf CDs gespeichert war? Es kann gut sein, dass Ihr nächster Computer kein Laufwerk mehr haben wird, um sie zu lesen. Wie bewahren sie Fotos auf? Drucken Sie aus? Speichern sie nur? Löschen Sie ab und zu alles Unbrauchbare? Und wenn nicht, gehen Sie davon aus, dass Sie das je noch tun werden? Gehen Sie davon aus, dass Sie in 15 Jahren Fotos wieder anschauen werden, die Sie heute auf Ihrem Handy machen? Was ist mit den Videos?

Jede Minute werden auf YouTube 400 Stunden Videomaterial hochgeladen. Auf der Website Forgetify.com kann man Millionen von Liedern hören, die bei Spotify noch nie oder noch nie ganz gestreamt wurden.

Das Ablaufdatum der allermeisten Dateien, die wir Tag für Tag produzieren ist heute. War in dem Moment, als der Auslöser gedrückt wurde. Es war noch nie so einfach, Dinge festzuhalten und zu verbreiten. Jede und jeder kann jederzeit auf Sendung sein. Aber im Lärm all dieser gleichzeitigen Sendungen läuft es dann doch darauf hinaus, dass die Allermeisten dasselbe sehen und hören: Das was der Algorithmus einer grossen digitalen Plattform anbietet, bereits abgestimmt auf unsere Bedürfnisse, die die Plattform aufgrund unserer anderen Interessen ermittelt hat.

Ich könnte diese Kolumne jetzt weitertreiben in eine kritische Betrachtung dieser Umstände, ich könnte schreiben von der Einsamkeit vieler Menschen vor ihren Bildschirmen, die sie doch eigentlich mit der ganzen Welt verbinden. Aber ich versuche es einfach mal ohne Wertung und halte nüchtern den Gedanken fest, dass die beiden Kehrseiten dieser Entwicklung irgendwie Sinn machen: Wir haben uns eine Welt erschaffen, in der technisch alles gleichzeitig stattfinden kann. Es ist aber auch eine Welt, in der gar nichts mehr stattfindet, wenn man den Strom abstellt. Es ist eine Welt, in der alles festgehalten und nachgeschaut werden kann, Wahrheit neben Behauptung, Photoshop neben Echtbildern. Es macht Sinn, dass wir den Überblick verlieren und nicht mehr wissen, was man noch glauben kann. In der Welt, die wir uns erschaffen, sind vielen von uns im Alltag unsere Geräte näher als die natürliche Umwelt. Es macht Sinn, dass die Art, wie wir diese Welt weiterentwickeln kaum Rücksicht nimmt auf das natürliche Gleichgewicht unseres Planeten. All das kann man werten. Aus persönlicher Sicht falsch finden. Aber aus Distanz betrachtet sind es einfach die zwei Seiten einer Art von Fortschritt.

Es wäre spannend zu wissen, wie die Menschen im Jahr 2119 auf die Menschen im Jahr 2019 zurückschauen werden. Wird unsere Zeit der Beginn eines neuen Kapitels gewesen sein, in dem der Mensch seine natürlichen Herausforderungen an Maschinen abgetreten hat und sich auf anderes konzentrieren kann? Oder wird es das Ende eines Kapitels gewesen sein: Der Rausch kurz vor dem Crash, wenn dann tatsächlich jemand, vielleicht die Mutter Natur, den Stecker zieht? Erleben wir gerade das Ablaufdatum einer technikskeptischen Weltsicht? Oder wir erleben das Ablaufdatum einer technisierten Welt, die sich die eigenen Lebensgrundlagen zerstört? Unsere Urgrosskinder werden es wissen.

PS: Ich persönlich tendiere dazu, am Ende dieses Gedankengangs das Fenster zu öffnen, den grünen Frühling in den Bäumen zu bestaunen, den Vögeln zuzuhören und ein paar Mal tief durchzuatmen, frische kühle Luft, die nach Regen und Leben riecht.