Vor wenigen Wochen mussten wir uns von meiner Grossmutter Bethli Trummer verabschieden. Es war traurig, aber nicht tragisch, sie durfte gehen, wie sie es sich mit ihren 94 Jahren schon eine Weile gewünscht hatte. Meine Grossmutter hat mir einen Reichtum vererbt, von dem ich mein Leben lang zehren werde: Sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Die Geschichte eines Mädchens im Frutigtal der 20er und 30er Jahre. Einer jungen Frau während des Weltkrieges. Einer jungen Mutter in den 50ern, als der explodierende materielle Wohlstand eine Fabrikarbeiterfamilie noch längst nicht erreicht hatte. Sie hat erzählt von ihrem Alltag mit einem kinderreichen Haushalt, zu einer Zeit als die Wäsche noch im grossen Kessel im Keller von Hand gewaschen wurde. Als man nach getanem Tageswerk in der Küche sass und Streichhölzer «truckelte» um ein bisschen etwas dazu zu verdienen. Sie hat damit immer von mehr erzählt als ihrem eigenen Leben, nämlich vom Leben an sich in unserem Tal zu jener Zeit. Von den ungeteerten Strassen, die man sich nicht mehr vorstellen kann, bis zu Strukturen des Dorflebens, die man bis heute findet.
Später wurde es zur berührenden Liebesgeschichte eines Paares, das in glücklicherweise schönen Jahren eines aktiven Ruhestands vielleicht zum ersten Mal wirklich Zeit hatte einfach ein Paar zu sein. Einmal habe ich Grossmutter gefragt, ob die Zeit als Hausfrau mit 6 – 7 Kindern zuhause nicht hart gewesen sei. Sie hat mit den Schultern gezuckt und gesagt: «Ja, wohl, das sy schwirigi Jahr gsy.» Wie sie das sagte, in einer Selbstverständlichkeit ohne Klage, in ihrem Sessel sitzend mit der Lismete auf dem Schoss und einer Katze bei den Füssen.
Ich denke manchmal wehmütig: Ob eine solche Liebesgeschichte für meine Generation überhaupt noch möglich ist? Wir haben andere Ansprüche an unsere Leben und unsere Beziehungen, und sie finden unter ganz anderen äusseren Bedingungen statt. Ansprüche wie Selbstentfaltung und Unabhängigkeit, wie man sie hier in den 30er Jahren mit bescheidenen wirtschaftlichen Möglichkeiten gar nicht haben konnte. Damals war eine Scheidung noch eine Schande. Das hat für viele Frauen und Männer bestimmt jahrelanges Unglück mit sich gebracht, wenn sie es nicht getroffen hatten miteinander. Aber gleichzeitig hat es wohl auch einen Rahmen gegeben, in dem viele andere abseits von romantischen Träumereien ein verbindliches Miteinander aufgebaut haben, auf eine praktische und hoffentlich liebevolle Art. So wurden auch schwierige Zeiten durchgestanden, in denen man sich heute vielleicht freier fühlen würde, nur auf sich selbst und den Moment zu hören. Freiheit ist ein Geschenk, aber sie ist eben auch eine Herausforderung.
Und auch die äusseren Bedingungen haben sich geändert. Seit Grossmutters Jugend sind Radio, Telefon, Fernsehen, Internet und Handys in unseren Alltag gekommen. Die ganze Welt ist immer nah, als Billigware in den Supermärkten, als Billigflugangebot im Internet. Als eine Flut von Informationen und Geschichten, mit denen man klarkommen muss, denen gegenüber man eine Haltung entwickeln muss. Nur mit konsequenter Abkapselung würde es einem noch gelingen, sich so auf die Dorfgemeinschaft und die Familie zu konzentrieren, wie es in Grossmutters Jugend selbstverständlich war. Viele der schönen Weisheiten aus Grossmutters Geschichten lassen sich für uns 2018 schlicht nicht mehr leben, so wie wir 2018 auch nicht mehr in Germanns Frischmarkt einkaufen können.
Die vergangene Welt, die ich dank Grossmutter kennen gelernt habe, werde ich aber voller Dankbarkeit in mir lebendig halten: Sie erinnert mich, welche Grundsätze zum Leben ich im Lärm unserer Gegenwart nicht überhören möchte. In der Liebe nicht romantischen Träumen nach zu jagen, sondern ein gutes und liebevolles Team zu sein. Den Menschen, mit denen ich zusammenlebe, gerecht zu werden.