Heute mal was Persönliches. Kürzlich hatte ich nach einer Probe in Frutigen Zeit für einen Spaziergang. Er führte mich ins Tellenfeld, wo ich in meiner Kindheit viele Abende draussen verbracht habe. Es war eine klare, aber mondlose und damit stockfinstre Nacht. Der Boden war noch aufgewärmt vom sonnigen Tag, die Wiesen frisch gemäht und der Duft von trocknendem Gras tränkte die laue Nacht. Ich stellte auf der Runde durch das Quartier fest, dass einige Häuser neu dazu gekommen waren, andere erneuert, dass mir aber das allermeiste vertraut war und sich hier eine scheinbar gerade Linie ziehen liess von meiner Kindheit bis zur Gegenwart. Es war ein wunderschöner Spaziergang, und wie oft, wenn ich zurück im Dorf bin und etwas Zeit habe auch meinen Empfindungen nachzuspüren, war ich erfüllt von einer eigenartigen Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit, glücklich und traurig zugleich, ein Heimweh zuhause. Ich habe mich vertopft wie eine Pflanze, dachte ich, und hier im Tal wäre eigentlich mein natürliches Terrain gewesen.

Ich bin vor 16 Jahren weggezogen. Ich hatte Frutigen nie furchtbar gefunden, aber für mich und meine Pläne schien es nicht der Ort zu sein. Vor einigen Jahren sass ich einmal beim Friedhof oben mit Blick auf das Gerihorn, das ich so oft betrachtet hatte, wenn ich jugendliche Zukunftspläne geschmiedet hatte. Und plötzlich verstand ich etwas besser, was mein Entschluss bedeutet hatte, die Heimat zu verlassen:  Ich hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein, zwischen zwei Lebensentwürfen entschieden: Weggehen heisst, sich in ein Umfeld zu verpflanzen, das am fruchtbarsten scheint für die Rolle, die man sich zutraut oder wünscht mit den Talenten und Hoffnungen, die man pflegt. (Ich verstehe, dass das etwas Anmassendes hat in den Augen jener, die bleiben.) In der Heimat zu bleiben bedeutet, sich in eine Rolle zu geben, in die man gewissermassen hineingeboren wird, also seine Talente und Wünsche in der heimatlichen Gemeinschaft einzubringen und zu entfalten. (Ich verstehe, dass das etwas Einengendes hat, für jene die gehen.)

Mein «Heimweh» manchmal in Frutigen ist ein Heimweh nach dem Leben, das ich hätte haben können, wenn ich geblieben wäre. Wäre ich geblieben, würde ich wohl öfter beim einem Besuch eines urbanen Umfelds eine Art «Fernweh» spüren, nach dem Leben, das ich hätte haben können, wenn ich mich hinausgestürzt hätte. 16 Jahre auswärts haben Tatsachen geschaffen. Z.B., dass der Argwohn von «Städtern und Ländlern» einander gegenüber, meinen Alltag seltsam zweiseitig betrifft. Dass ich mich im städtischen Umfeld an Lebensweisen gewöhnt habe, die mich zuhause «fremd» machen. Dass man mir auch in der Stadt immer noch anmerkt, dass ich «urchigere» Wurzeln habe.

Ich klage aber nicht darüber: Gedanken und Gefühlen in der Kunst einen Platz zu geben, war ja immer mein Wunsch, und in den kommenden Monaten darf ich mit meinem «Heimweh» auf die Bühnen, auf die mich mein «Fernweh» gezogen hat, und dort die Lieder nach den wunderschönen Texten Maria Laubers singen, deren Heimweh ja auch immer bereits beim Aufbruch eingesetzt hat.