Ich habe mich gerade frisch verliebt. In einen Satz. In eine Songzeile, genauer gesagt. «My lips are chapped from thinking of your mouth.» Das Lied heisst «Invention», von der hierzulande leider sehr unbekannten Amerikanerin Lotte Kestner. Es ist immer schwierig, anderen verständlich zu machen, warum eine bestimmte Zeile mich derart berührt. Ich entschuldige mich hier auch grad bei all den lieben Menschen, die sich auf meinem Sofa schon Songs anhören mussten, sie mucksmäuschenstill, und ich ganz hibbelig: «Jetzt dann, diese Zeile! Hör mal! So schön, oder?» Und sie lächelten verlegen, und sagten: «Ja, schono schön.» Oder auch: «Ich hab glaub nicht alles ganz verstanden…»

«Meine Lippen sind spröde von den Gedanken an deinen Mund», singt Lotte Kestner. Ein regelversessener Sprachlehrer würde sagen: So ein Blödsinn. Erstens können Lippen keine Gedanken haben. Zweitens können Lippen von Gedanken nicht spröde werden, sondern z.B., weil sie dauernd benetzt werden. Der Satz müsste also lauten: «Meine Lippen sind spröde, weil ich sie dauernd benetze, wenn ich an deinen Mund denke.» Der Lehrer hätte natürlich prinzipiell recht, andererseits hätte er alles beseitigt, was an dem Satz einmal poetisch war. Und er täte mir auch ein bisschen Leid, weil er seinen Geist offenbar kein bisschen öffnen kann.

Das ist für mich der unschätzbare Wert der Poesie, von gelungener Kunst ganz allgemein, egal aus welcher Sparte. Sie befreit den Geist, weil sie ihn herausfordert, aber ihm das Denken und Verstehen nicht abnimmt. Sie gibt uns keine sachliche Erklärung, sondern lässt uns teilhaben, an einem Gefühl, einer Wahrnehmung, einer Wahrheit, die nicht beweisbar ist, sondern nur fühlbar. Sie funktioniert nur, wenn wir uns einlassen. In unserem Alltag, der auf Fakten, auf Folgerichtigkeiten, auf geregelten Abläufen beruht, ist Kunst wie ein Vorhang, der aufgeht und eine andere Wirklichkeit erscheinen lässt. Wie wenn ich abends auf dem Balkon stehen würde, voller Sorgen über den Zustand der Welt, gestresst von den Mails, die immer noch auf dem Smartphone aufleuchten, und plötzlich ist der Bildschirm schwarz, alle Lichter des Dorfes aus, alle Motoren verstummt, und ich sehe die Berge, die Wiesen, den Sternenhimmel, höre die Stille der Nacht, und merke: Ah, ja, stimmt, ich bin ja neben all meinen Rollen und Funktionen in der organisierten Gesellschaft vor allem ein Lebewesen, auf einem uralten Planeten in einem endlosen Weltall. Ein Gefühl, wie wenn ich nach einem heissen Tag in zu warmen Schuhen plötzlich barfuss im Gras stehe. Das tut gute Kunst für mich: Sie zieht mir die Schuhe aus. Sie erinnert mich an mein Menschsein.

Das ist wirtschaftlich gesehen natürlich nicht wünschenswert. Die Schuhindustrie hat nichts von Leuten, die barfuss in der Wiese stehen. Es kann einem auch Angst machen, denn wenn die Rollen und Funktionen wegfallen, steht man ziemlich ungeschminkt da. Aber man ist geweckt, und wache Menschen können für eine offene Gesellschaft kein Nachteil sein. Und zudem steckt in jedem herausfordernden Werk immer auch eine tröstliche Botschaft: Jemand anderem ist es offenbar gleich ergangen. Wir sind nicht alleine.

Lotte Kestner, hier findet ihr sie.