In der Pubertät zwischen der 6. und der 9. Klasse war es ja nicht einfach, sich auf den Schulunterricht zu konzentrieren. Ich weiss noch genau, wie mir auch der üblichste Liebeskummer lebensbedrohlich vorkam, an welchen Ecken auf dem Pausenplatz ich mich postiert habe, in der Hoffnung, meine Angebetete spaziere vorbei und würdige mich vielleicht sogar eines Blickes. Aber was wir da genau im Geo und Math durchgenommen hätten… Tja.

An eine Doppelstunde Geschichte erinnere ich mich aber sehr genau. Wir sahen einen Dokumentarfilm über den Holocaust.

Wir sahen Bilder eines Baggers, der ausgemergelte Körper in eine Grube schob. Nahaufnahmen von Gesichtern, die identifizierbar wurden, die man hätte kennen können, kurz bevor sie am Grubenrand in eine Reihe gestellt und erschossen wurden. Flüchtlinge, die auch an der Schweizer Grenze abgewiesen wurden, obwohl man durchaus wusste, was in Deutschland mit ihnen geschah. Schweizer Bundespolitiker, die mit Hitler-Deutschland sympathisierten. Die Schweiz als sicheren Parkplatz von internationalem Geld. Blutigem Geld. Eine internationale Gemeinschaft, die erst dann einschritt, als Hitler anfing, andere Länder anzugreifen, aber nicht in erster Linie zum Schutz der verfolgten Menschen in Deutschland. Der Schrecken nach diesem Film war real, nachhaltig und tief.

Die Geschichte hat vielen Mächtigen jener Zeit kein gutes Zeugnis geschrieben.

Ich stelle mir vor, wie meine Kinder (die ich noch nicht habe…) eines Tages in 15, 20 Jahren aus der Schule nachhause kommen werden. Vielleicht werde ich eine Tochter haben, vielleicht wird sie vis-à-vis sitzen, bedrückt und still, und ich werde fragen: «Ist alles in Ordnung?»

«Es geht», wird sie sagen.

Dann wird sie erzählen von einem Film, den sie in der Schule gesehen haben. Fach Geschichte. Das Jahr 2015. Bilder eines Strandes, an dem tote Menschen angespült wurden. Tausende Menschen ohne Dach über dem Kopf, die an europäischen Grenzen in Kälte und Hunger ausharren. In nächster Nähe zu gut funktionierender Zivilisation. Nahaufnahmen von flüchtenden Familien, obdachlos und ratlos in Griechenland. Vergleichsweise wohlhabende europäische Länder, die alles taten, um die Flüchtenden fernzuhalten und Griechenland aufforderten, seine Grenzen besser zu schützen. Einen griechischen Präsidenten, der ungläubig fragte, ob er die Menschen ertrinken lassen soll. Der keine Antwort bekam. Bilder aus Deutschland, wo Menschenmengen Asylheime bedrohten und anzündeten. Bilder von Schweizer Politikern, die Verständnis dafür zeigten. Von Schweizer Firmen, die in Krisengebieten Gewinne machten, mit Waffen, mit Rohstoffhandel. Von einer Schweiz, die trotzdem der Meinung blieb, dass sie das alles nicht viel angehe.

Die Geschichte wird den europäischen Mächtigen von 2015 kein gutes Zeugnis schreiben.

Aber ich werde meiner Tochter sagen können: 2016 hatten wir Vorteile gegenüber anderen gefährlichen Momenten der Geschichte: Uns drohte keine Verfolgung, wenn wir unsere Meinung sagten. Unseren Mächtigen die Meinung sagten. Wir konnten sie wählen und abwählen, ermahnen und auffordern, das menschlich Richtige zu tun.