Die Kalte Stadt

Woche Vier in der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist März, ein kalter Schauer läuft mir den Rücken runter, nur noch zwei Monate! Kalt ist es auch draussen, immer noch. Der Schnee, von dem man offenbar auch in der Schweiz gelesen hat, ist inzwischen wieder geschmolzen, und war aus Fussgängerperspektive eh weniger dramatisch als für die Autofahrer, die man zwei Tage lang mit dem Schaufeln vor dem Haus sah. Aber eben, kalt ist es immer noch sehr, nach zwei Blocks gegen den Wind, beginnt das Gesicht zu schmerzen.

The Sidewalk Café

Die Legende des Sidewalk Café im East Village hat sich mit dem etwas rätselhaften Erfolg von Adam Green längst bis Deutsch-Europa herumgesprochen. Dennoch ist es hier der „Place to go“ geblieben. Überall, wo ich in meinen ersten Tagen frage, wo man noch spielen müsste, wird das Sidewalk sofort genannt. Dort ist jeden Montag Open Mike.

An meinem zweiten Montag stehe ich also um 7.30pm unter dem weinroten Storen an der Kreuzung Avenue A und 6th Street. Drinnen erschrecke ich erstmal. Alle, ALLE, also jeder und jede im Raum haben eine Gitarre dabei, das sind etwa 30 Leute. Ich sehe anders als bei anderen Open Mikes nirgends eine Liste aufliegen, um meinen Namen einzutragen. Etwa um 7.45 steigt ein kauziger, nicht besonders hochgewachsener Mann mit Elvis Costello-Brille auf die Bühne und beginnt eine kleine Rede:

„Hello, I’m Lach, your host, welcome to the AntiFolk-Hootenanny at the Sidewalk Café.“

Lach hält eine kurze Ansprache, die mich an Stand-Up Comedians denken lässt, er kann es natürlich nicht lassen, die Geschichte von Vize Dick Cheneys Jagdunfall auszuschlachten, die heute in allen Zeitungen war. Es ist aber tatsächlich lustig und das Publikum lacht und scheint ihn zwar zu lieben, aber auch zu kennen: „I knew that was gonna come!“, ruft mein Nachbar.

Als er geschlossen hat, kann man in die Schlange stehen und eine Nummer ziehen, zwischen 1 und 60, ich ziehe 34 und wähne mich glücklich, lasse meinen Namen auf der Liste eintragen und setze mich wieder. Dann spielt Lach ein kurzes Set, er ist weder ein besonders begabter Sänger noch Gitarrist, aber die Texte haben den Witz seiner Kommentare.

Als das OpenMike Programm beginnt, beginnt für mich auch ein Wechselbad der Stimmungen und Gefühle, im 8-Minuten-Takt. Einerseits gibt es auch hier die Leute, die offenbar ihre Gitarre nicht stimmen können und unerfahrenerweise konsequent am Mikro vorbei singen, andererseits steigt bereits als Zweiter ein gewisser Carl Creighton auf die Bühne, ein dicklicher Junge, könnte optisch der jüngere Bruder des Keane-Sängers sein, stimmlich irgendwo zwischen Jeff Buckley und Damien Rice, und zwei Songs so bezaubernd wie irgendetwas, das man sich vorstellen kann. Ich weiss nach zwei Strophen, dass ich mit einer adäquaten Aufnahme dieser Musik alle meine Gleichgesinnten zuhause begeistern könnte.

So geht es weiter.

Hier wieder ein jämmerlicher Versuch, mit pseudo-dylaneskem Gekrächze und spätpubertär-naiver Gesellschaftskritik die Welt zu verändern, dort eine junge Frau am Piano, in der man bestens eine nächste Fiona Apple erkennen kann, hier schluffiges Geschrummel, dort ergreifende Bühnenpräsenz von einer Intensität, wie man sie sich bei vielen arrivierten Bands wünschen würde.

Viele der Performer kündigen ihre Konzerte in der Stadt an, insbesondere am Sidewalk-Anti-Folk-Festival, das nächste Woche beginnt. Mir wird einerseits bewusst, dass Lach offenbar jenen, die bald Auftritte haben, einen guten Platz auf der Liste zuweist, andererseits irritiert es mich, dass manchmal auch jemand seine Show ansagt, den ich nun wirklich nicht zu den Höhepunkten des Abends zählen würde. Scheinbar gibt es innerhalb dieser AntiFolk-Szene einen eigenen, für mich noch nicht durchschaubaren, Qualitätsmassstab.

So vergehen die Stunden. Von 10 bis 11.30 und ab 1 Uhr morgens wechselt Lach in die so genannte „One Song Wonder-Round“, wo man nur noch einen Song spielen kann. Ich habe unterdessen gegessen, Kaffee getrunken und bin bei meinem etwa vierten Bier angekommen, es ist nach Mitternacht und jedes Mal lausche ich gespannt, wenn Lach Ankündigungen macht: „Next up it’s Sheera, with Mike on Deck and Jamie on Double-Deck“, womit man dann jeweils zwei Acts im Voraus wüsste, wann man dran ist. Die Genannten packen ihre Gitarren und ziehen sich ins Untergeschoss zurück, eine Art Backstageraum, gleichzeitig der Durchgang zu den Toiletten. Einige verbringen fast den ganzen Abend dort unten, kennen sich offensichtlich sehr freundschaftlich, es wird gejammt und diskutiert, ein Networking-Knotenpunkt der Szene.

Einmal frage ich Lach im Auftrag eines weiter hinten Stehenden, bei welcher Nummer wir inzwischen sind, er antwortet eher unfreundlich: „Nevermind, man!“, und etwas später zwischen zwei Auftritten sagt er durchs Mikro: „Please don’t ask me about the numbers, everybody will play, and if you’re in a hurry, then you’re uptight, and if you’re uptight, you don’t belong here, go to the West Village!“ Die Leute lachen und ich schäme mich, und möchte ihm erklären, dass ich ja nicht für mich gefragt habe, was ich aber natürlich lasse.

Irgendwann um 1.30 ist es schliesslich soweit, mein Name wird aufgerufen, das Publikum ist deutlich kleiner nun, es fehlen besonders die schönen Sängerinnen, deren Gegenwart mich sicherlich noch etwas motiviert hätte. Lach spricht immer von seinem Talkback beim Mischpult aus mit den Leuten auf der Bühne, je später der Abend, desto lustiger und familiärer wird es, und wie immer will er auch von mir wissen, ob das mein erstes Mal hier sei, woher ich komme usw. Dafür gibt es eine Reihe Applausanweisungen. Es gibt den „First Time Applause“, den „New Song Applause“, den „Lefty Applause“ für Linkshänder. Ich kriege also den „First Time Applause“ und Lach fragt, wie ich das Sidewalk gefunden habe.

„That’s what I came to New York for“, schmeichle ich ein bisschen. “I’ve been sitting back there for five hours, I was nervous when I arrived here tonight, by now I’m a wreck, so thanks for having me.” Das sechste Bier hat den Rest des Jobs gemacht…

“So what are you gonna play for us?”

“I’ll play Now That You’ve Gone.”

“Ooooh.”

“Yeah, I know, sounds sad, but that’s Switzerland, you know, it’s a miserable country.”

“I looove Switzerland”, ruft jemand.

Dann spiele ich endlich mein Lied, was angesichts der fortgeschrittenen Müdigkeit nicht ganz kampflos geht, aber immerhin sagt Lach danach „That was Chris from Switzerland! Keep coming back!“

Ich gönne mir einen Martini on the Rocks zur Feier des Durchgestandenen, muss aber feststellen, dass die Amerikaner unseren Martini nicht kennen und stattdessen ein seltsames Vodka/Gin-Gemisch servieren, mit einer Olive, ganz und gar nicht feierlich für meinen Gaumen.

 

My First Gig

In der Woche darauf bin ich selbstverständlich wieder dort, fest entschlossen, diesmal eine bessere Nummer zu ziehen. Es wird die 23. Viele andere sind auch wieder da, und ich habe bereits ein paar Bekanntschaften geschlossen. Dann habe ich tatsächlich Glück und kann zwei Songs spielen, ich habe fleissig geübt und weniger getrunken. Wiederum habe ich eine kleine Plauderei mit Lach am Mikrofon. Die USA haben Presidents Day, einen offiziellen Feiertag, und viele Auftretende werden nach ihren Lieblingspräsidenten gefragt, was für Lach natürlich immer wieder dankbares Witzmaterial bietet. Als ich kurz unser System mit den sieben grundsätzlich Gleichberechtigten erwähne, will Lach mehr darüber wissen, ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass das jemanden an einem OpenMike interessiert, Lach insistiert aber, also gebe ich kurz die Anekdote zum Besten, dass zB unsere ehemalige Gesundheitsministerin im Dienstwagen geraucht habe und relativ offiziell lesbisch sei. Das lieben sie. „I wanna live in Switzerland!“, ruft wieder jemand, und ich denke zwar „Willst du wahrscheinlich nicht…“, stelle aber auch belustigt fest, dass man offenbar eine Schweizer Herkunft relativ gut ausschlachten kann, um unterscheidbar zu sein von all den anderen, die gespielt haben.

Der Abend bleibt glücklich: Nach meinen zwei Songs fragt mich Lach über das Talkback, ob ich Lust hätte eine Show hier zu spielen, ich soll nachher bei ihm vorbei kommen. Das tue ich natürlich und er gibt mir einen Zettel mir seiner Nummer, ich soll am Mittwoch zwischen 2 und 5 anrufen und das Codewort „Switzerland“ durchgeben, damit er wisse wer ich sei und dass er mit mir sprechen wolle, denn er bekomme eine Million Anrufe.

Draussen vor dem Sidewalk treffe ich einige der Regulars, die sich auch gerade eine Zigarette gönnen. Sie gratulieren mir. Ich bin ein bisschen hin- und hergerissen, weil ich ja schon letzte Woche bemerkt habe, dass nicht alle hier Auftretenden unbedingt toll sind, nach meinen Massstäben. Aber Dan Costello, Lachs rechte Hand im Sidewalk, versichert mir, es sei eine Ehre, so schnell einen Gig hier zu bekommen, ich soll diese Woche beim AntiFolk-Festival viel da sein und Leute kennenlernen und „Welcome to the Family!“

Ich könnte jetzt nicht behaupten, dieser Abend habe mich nicht einigermassen euphorisiert.

The AntiFolk Festival

So verbringe ich also meine Woche im Sidewalk Café. Jeder Abend ist ein kleines oder grösseres Ereignis. Von vielen der Auftretenden habe ich beim OpenMike bereits ein, zwei Lieder gehört, ich habe also ein vage Ahnung was mich erwartet. Irgendwie gut sind die Meisten, aber einige stechen doch heraus.

Ich höre zB David LK Murphy, einen pickeligen Anfangzwanziger mit ergreifender Stimme und Songs so still wie Ryan Adams beste Balladen.

Ich höre The Bowmans, Zwillingschwestern aus Iowa, die bereits, völlig nachvollziehbar, ein Angebot von V2 haben, wunderschöne Frauen, Texte, die an kleinen Alltagssituationen aufgehängt sind und dann plötzlich mit einer dieser für mich unwiderstehlichen Zeilen kommen, die unerwartet emotionale Abgründe aufreissen. Dazu eine Dynamik in ihrem Harmoniegesang, die einem im Zeilentakt durch Himmel und Hölle führt.

Ebenso gross könnte Erin Regan werden, ein rothaarige Schönheit aus dem Süden, deren traurige Lieder unvermittelt ins Dreckige kippen können, die, Lucinda Williams ähnlich, ihrer vorgeführten Verletzlichkeit zum Trotz den Stinkfinger zeigt. „Sand in your eyes“, „Scraecrow“ heissen die Songs.

Ich höre Frank Hoier, der auf eine sympathische Art direkt aus den Sechzigern eingeflogen scheint, wo er im Vorprogramm von Simon and Garfunkel gespielt hätte.

Ich höre Debe Dalton, ein fünfzigjähriges Mütterchen am Banjo, mit blauen Strähnen in ihrem weissen Haar, sie spielt uralte Folktraditionals und eigene störrische Songs, sie ist eine Legende im Sidewalk, weil sie seit Jahren jeden Abend da ist und meistens als Letzte geht, keine beeindruckende Sängerin, aber derart ausdrucksstark, dass man ihr jedes Wort glaubt.

Ich höre Toby Goodshank, der einst mit Adam Green und Kimya Dawson bei den Moldy Peaches spielte und derart grossartig seine Miniatursongs vorsingt, dass man sich wünschte, er hätte etwas mehr von Greens Willen zum Erfolg gehabt damals.

Ich höre Paula Valstein, optisch eine Tori Amos-Inkarnation, die einen mit ihrer Brillanz an Piano und Gitarre offenen Mundes an den Stuhl fesselt und in den besten Momenten an Joni Mitchell erinnert.

Ich höre Beat the Devil, ein Trio mit Bass, Drums und einer Harmonium spielenden Latino-Sängerin, die als weiblicher Jim Morrison durchgehen könnte. Die Band, die derzeit verständlicherweise als The Hot Shit in der Szene gilt und mit dieser Besetzung wohl das Originellste ist, was ich in Monaten gehört habe.

Ich höre all diese und noch viele mehr, jeden Abend gehe ich berührt und beeindruckt nachhause und sitze am nächsten Nachmittag mit meiner Gitarre im leeren Loft und experimentiere mit Möglichkeiten, die beobachtete Intensität in meinem Zeug herauszuarbeiten, was nicht selten in einem neuen Song gipfelt.

Ein Plätzli für den Schweizerbuben…?

Mein Sidewalk-Gig wird am 19. März sein, bis dahin werde ich fleissig networken, damit dann auch jemand zuhören kommt. Dafür gibt es in den USA die Internetplattform MySpace.com, die ich ein nächstes Mal erläutern werde. Auch bin ich dran, bei andern Clubs meine Demos zu deponieren.

Wo ich mit meinem Zeug nun genau stehe, was ja die Ausgangsfrage meiner Reise ist, das weiss ich natürlich noch nicht. Aber obwohl mir immer wieder bewusst ist, dass viele, und meiner Meinung nach nicht nur gute, SongwriterInnen im Sidewalk Shows haben: Es ist doch immerhin ein Anfang gelungen, der motivierend ist. Und Zeit mit all den tollen Künstlern dieser Szene zu verbringen ist vielleicht das Beste, was mir in meiner Laufbahn bisher passiert ist. Denn dafür scheint New York der ideale Platz zu sein: Man kann sich voller Hingabe mit dem identifizieren, was man sein will, als was man sich fühlt, egal, ob man noch arbeitet daneben, oder wie weit die Karriere schon gediehen ist. Alle im Sidewalk sind Songwriter und finden es das Wichtigste in der Welt. Das ist natürlich abgehoben, aber es gibt Schwung.